Patientin null
Strategien der Hoffnung
Ergebnisse:
Traktat No. 1
1. Der Umzug unserer Kunst in den virtuellen Raum ist für uns keine Option. Wir brauchen und wollen die Unmittelbarkeit. Unmittelbarkeit konservieren zu wollen, ist ein Widerspruch in sich.
2. Wenn wir das Ergebnis unserer Arbeit nicht konservieren können und wollen, so können wir doch den Prozess, der dahin führt, konservieren. In der ersten Phase ist dies ein Austausch von und Auseinandersetzung mit Ideen, Gedanken, Rechercheergebnissen, literarischen und anderen Fundstücken. Eine Reihe intensiver konstruktiver ergebnisoffener Gespräche: Am Anfang ist das Wort.
Wir wollen die Vision konservieren. Im Wort bleibt sie uns lebendig - und damit verfügbar für eine Zeit, in der wir wieder unseren Raum betreten können. Wir schreiben ein Buch: das Buch zur Vision, das Buch zum Stück, das sein könnte.
Wir befreien uns aus der unseligen Situation des Ideenschwanger-Visionsgesättigt-Des-Redens-Müde-Seins. Es wird ein Ergebnis geben, eine künstlerische Geburt, ein gemeinsames Geschöpf. Ein Buch.
Wir recherchieren, phantasieren, konzipieren ein Bühnenprojekt: Homo post pandemic. Wir fragen:
Was passiert uns – als Menschen, als Gesellschaft - auf dem Weg in die immer konsequentere Kontaktvermeidung?
In der Physik gibt es verschiedene Modelle, wie das Ende des Universums vorstellbar wäre:
- der Big Freeze, wenn am Ende der Ausdehnung des Alls nichts mehr mit irgendetwas in Beziehung ist und alles still steht - ein zugleich physikalisch wie soziologisch apokalyptischer Entwurf von einer Welt, in der sich alle Energie verloren hat, wo sich alle Teilchen, ebenso alle Gedanken, Gefühle, Absichten, so weit voneinander entfernt und isoliert haben, dass kein schöpferischer Stoffwechsel mehr stattfinden kann.
- der Big Crunch, wenn alle Materie im All sich in einer plötzlichen Gegenbewegung zur derzeitigen Expansion auf einen Nullpunkt zusammenziehen wird: Das Zusammenfallen allen Seins ins Nichts. Auch furchtbar, auch tödlich.
- oder der Big Rip, das Große Zerreißen, wenn die hypothetische Dunkle Energie mit zunehmender Ausdehnung des Alls das Auseinanderdriften derartig verstärkt, dass das Universum in immer kleinere und schließlich kleinste Teile zerreißt.
Jedes dieser Szenarien erscheint in der aktuellen weltweiten Situation wie eine düstere, schmerzhaft hellsichtige Prophezeiung. Das Ende des Universums also als Allegorie.
Wir fragen uns nach eigenen und den Erfahrungen Anderer, die den drohenden Verlust persönlicher Beziehungen, mit Hilfe digitaler Medien, zu kompensieren versuchen.
Was wird der Homo ipsae simpliciter, der Mensch ohne Beziehungen sein?
Der Homo post pandemic: ein postpandemischer Kaspar Hauser?
Wir schreiben Briefe. Wir schreiben ein Buch.
Das Wort ist ein Anfang.
Begleiten Sie uns!
CnOoRrOmNaAl
184 TAGE ONLINE
Vor 125 Tagen, am 26. Februar 2020 teilte Bundesgesundheitsminister Spahn mit, Deutschland stehe „am Beginn einer Coronavirus-Epidemie“.
Seitdem ist nichts mehr, wie es war.
Je surrealer unsere konkreten Lebensumstände werden, je mehr wir uns bemühen, ungewohnte Verhaltensweisen in Gewohnheiten zu überführen, umso unfassbarer wird diese Wirklichkeit. Die Hoffnung auf eine Rückkehr in die Welt vor Corona - die wir jetzt „Normalität“ nennen - konkurriert mit der Ahnung, dass wir uns in einer für immer veränderten Welt einrichten müssen - die wir „neue Normalität“ nennen.
Dies ist unser Versuch, als Theatermacher*innen gemeinsam mit und in unserer Kunst zu überleben - jenseits jeder Normalität.
Kontext:
>>reload: ein Stipendium der Kulturstiftung des Bundes
Content:
Wir öffnen die Türen zu unseren Arbeitszimmern und unsere Schreibtischschubladen.Wir teilen unsere Bildschirme, unsere Ideen und Irrtümer, unsere Versuche und Fehlschläge,unsere Wege und Entscheidungen hin zu einem ästhetisch geformten Ergebnis.
Phase 1: Recherche
Fokus: Theater- und Kunstgeschichte – Kulturgeschichte der Seuchen und Pandemien – Dimensionen der Wirklichkeit: Universum Mensch vs.Weltmacht Virus – die Oberammergauer Passionsspiele.Wir schauen in jede Ecke, unter jedes Sofa und ziehen heraus, was wir dort entdecken. Unsere Fundstücke werfen wir auf einen Haufen in der Zimmermitte.
>> unser Blog
Phase 2: Sondierung
Wir schauen uns unseren Haufen an, sortieren aus und um und versuchen zu verstehen, worum es geht. Wir geben den Fundstücken Namen
>> unsere Pinnwand
Phase 3: Inszenierung
BEGLEITEN SIE UNS!
Liebe Noa und lieber Oli,
ich hatte wirklich die allerbesten Vorsätze und auch schon den Beginn des nächsten Briefes deutlich vor Augen: „Leute, ich weiß, wie 's geht! Folgendermaßen: ...“
Aber – leider – nein –
Man könnte denken: Der hat doch nichts zu tun, der Künstler, da soll er sich mal hinsetzen und sich Gedanken machen. Ein Stück schreiben, ein neues Lied singen oder wenigstens eine hübsche Puppe basteln. Einfach so. Weil er 's doch kann! Und dann hat er was, wenn die Zeit um ist.
Ja. Jaja. Hab ich ja. Das geht eine Zeit lang. Sogar gut. Da liegt mittlerweile einiges auf dem Haufen. Und was unsere gemeinsamen Vorhaben betrifft, habt Ihr genau so dazugeschaufelt. Ich bin froh, dass wir so viele verschiedene Themen, Ansätze, Materialien haben. Das reicht für fünf Stücke.
Aber irgendwann muss es konkret werden. Ich brauche eine Disposition und einen Termin. Sonst läuft mein Akku leer und leer und wieder leer, und lässt sich irgendwann nicht mehr richtig laden.
Schlimm für einen Kulturschaffenden ist, wenn die Lust, kreativ zu werden, versiegt. Spätestens dann ist der Punkt erreicht, wo er sich wirklich Gedanken um eine Neuorientierung machen sollte.
Zur Zeit wird man immer nachdrücklicher dazu aufgefordert, daheim zu bleiben.
In meinem Singlehaushalt komme ich mir mitunter vor wie der Letzte Mensch und suche täglich nach einem Vorwand, hinauszugehen, um mich davon zu überzeugen, dass das nicht stimmt. Ich setze mich aufs Fahrrad, gehe, husch, husch, mal schnell zum Supermarkt, wechsele ein paar Worte mit der Person an der Kasse, oder, was mir gerade am meisten wohl tut, mache ausgiebige Spaziergänge – und sehe von fern: Da sind noch Andere.
Komme ich nach Hause, umfängt mich aber wieder dieses dumpfe Gefühl, und ich stelle mir die Frage: Käme der Letzte Mensch auf die Idee, Theaterschaffender zu werden?
Wohl kaum.
Ich glaube, dass der Ursprung der Kunst in der Kommunikation liegt, in der Auseinandersetzung und der Verständigung. In dem, was Menschen mit Menschen erleben.
Das bedeutet umgekehrt, dass man nur mit neuen, frischen Erlebnissen einer drohenden schöpferischen Ebbe begegnen kann. Nur so funktioniert der Stoffwechsel der Phantasie.
Also versuche ich es mal mit einem schmalen Erlebnis von vorgestern:
> Ich gehe spazieren. Die Gegend ist mir unbekannt. Schlechte Sicht, kein Horizont zu sehen. Es liegt ein wenig Schnee. Der Weg ist matschig.
Ich komme an einem einsamen kleinen Haus ohne Dach vorbei. Der Schornstein ragt nackt aus den Mauern, sieht mit dem breiten Kaminkopf aus wie ein riesiges Shillum, als hätte sich das Häuschen selbst zur Ruine gekifft. Was war das früher? Ein Schrebergarten abseits der Kolonie? Ich betrachte durch den Zaun den verwilderten Garten und die verschmierten Graffiti auf den Mauerresten.
-
Ganz schon bunt, was? sagt eine Frau hinter mir.
-
Wissen Sie, was das war?
-
Ich kenne es nur verlassen. Früher hatte ich mal daran gedacht, das Grundstück zu übernehmen. Aber so, ohne Wasseranschluss und ohne Strom...
Die Frau geht weiter, ich rufe ihr hinterher:
-
Ich war hier noch nie. Kenne mich nicht aus. Kommt man da oben nach links weiter?
-
Sie gehen wohl auch lieber einen Rundweg, anstatt die selbe Strecke wieder zurück zu laufen?
-
Ja. Auf jeden Fall.
-
Ich war längere Zeit nicht mehr hier, aber ja: ich glaube, es gibt da oben am Wald einen Weg links runter.
Ich stapfe weiter. Auf ihre Empfehlung hin nehme ich einen undeutlichen Pfad am Waldrand links und wäre beinahe ausgerutscht.
-
Unten geht es besser voran! ruft sie aus der Ferne.
Nebel, verschwommene Sicht. Ich vertraue der Stimme und komme wohlbehalten zurück ins Tal.
Und nehme mir vor, das Häuschen noch mal zu besuchen, wenn es etwas wärmer, weniger ungemütlich und die Luft klarer ist.
Ich versichere: Der Abstand zwischen mir und der Frau hat drei Meter fünfzig nie unterschritten. <
Lohnt es sich, das zu erzählen?
Es kommt wohl darauf an. Wäre ich tatsächlich der Letzte Mensch, wäre die Geschichte eine Sensation. Oder das klare Anzeichen, dass ich den Verstand verliere.
Wieder bin ich an der Stelle, wo ich nicht weiter weiß. Wir wechseln unsere Briefe in der Hoffnung, dass diese 'pandemic memories' uns genügen und weiter bringen. Von Tag zu Tag. Mal sehen.
Für eine Wanderung mag im Kreis zu laufen unterhaltsamer sein, als den selben Weg hin und wieder zurück zu gehen; in beiden Fällen kommt man aber wieder zum selben Punkt...
Es kostet viel Mühe, sich nicht frustrieren zu lassen.
Bis bald, Ihr Lieben. Heute morgen war ich im Supermarkt, also koche ich mir jetzt was Leckeres. Um meine Laune zu heben und um zu überprüfen, ob mein Geschmackssinn noch funktioniert. Man weiß ja nie.
Euer Florian
Liebe Kollegen,
nur kurz:
ich schreibe Euch, weil ich letzte Woche Patientin Null besuchen durfte. Ich hatte mich sehr bemüht einen Termin zu bekommen, da ja jetzt der „harte“ Lockdown in Kraft treten wird und Besuche noch unmöglicher werden und ich mich (und Ihr wahrscheinlich auch) sehr um sie sorge.
Quasi eingewickelt in diversen Schutzmonturen durfte ich die Intensivstation betreten und mich einige Minuten mit ihr unterhalten. Trotz Beatmungsgerät, Herz- Lungenmaschine, Kanülen und Schläuchen machte sie nicht den Eindruck als ob sie aufgeben wolle.
Im Gegenteil, sie war hocherfreut über meinen Besuch und erzählte mir, dass sie unseren Briefwechsel, den sie ja auf unserer Webseite lesen kann, mit großem Interesse verfolgt.
Und sie gab mir zu verstehen, dass es in der momentanen Situation der richtige Weg von uns ist, nicht auf den digitalen-online-streaming Zug zu springen. Und wie um ihre Einschätzung zu bekräftigen, gab sie mir ein Buch und sagte: “Vielleicht hilft es euch ja am Ball zu bleiben und mich und euch, den anderen da draußen, plausibel zu machen...ich schenke es dir, mir gefiel es ganz gut.“
Ich bedankte mich, schlug eine beliebige Seite auf und las: “Dass Fast-Sterben und dann Überlebthaben ist das Stärkste, was wir spüren können“, hat ein anderer Grenzgänger zwischen der menschlichen und der nichtmenschlichen Welt gesagt.“ McCandless schrieb in sein Tagebuch in Alaska: Ich bin wiedergeboren. Dies ist meine Morgendämmerung. Das wirkliche Leben hat gerade erst begonnen. Achtsam leben: Bewusste Aufmerksamkeit auf das Elementare des Lebens und eine bewusste Aufmerksamkeit auf deine unmittelbare Umgebung und daß, was sie angeht, Beispiel: eine Arbeit, eine Aufgabe, ein Buch; was auch immer, es beansprucht die ganze Konzentration ( die Umstände haben keine Bedeutung. Es geht darum, wie man sich selbst in einer Situation so verhält, dass sie wertvoll wird. Alle wahre Bedeutung liegt in der persönlichen Be-
ziehung zu einem Phänomen, was es für dich bedeutet).
Aus: Michael Hampe – Die Wildnis Die Seele Das Nichts, Über das wirkliche Leben / Hanser Verlag 2020, S. 51,52
Mein Interesse war geweckt und im Hinausgehen versprach ich ihr, daß wir nicht aufgeben werden
und wir versuchen werden sie so schnell wie möglich wieder auf die Beine zu kriegen.
Nun lese ich immer wieder in diesem Buch ( sehr empfehlenswert ) und ärgere mich immer wieder, dass es in dieser unplanbaren Zeit immer wieder genügend zu planen gibt.....
…. Das Planen der Planlosigkeit ....
Gehabt Euch wohl und bis bald
Oli
Liebe Noa, lieber Oli,
nachdem ihr treu Eure Briefe rechtzeitig vor dem nächsten Videotreffen verfasst und verschickt hattet, blieb ich den meinen schuldig. Jetzt hole ich nach, was ich schon längst hätte schreiben können. Oder nicht? Meine Ausrede war, dass mir der Bezug zu einem größeren Zusammenhang zu fehlen schien, ich diesen übergeordneten Gedanken noch nicht formulieren konnte.
Jetzt, nach unserem Treffen am Bildschirm, weiß ich, dass ich den Zusammenhang eigentlich kenne – oder schon kannte? – , aber ich fand eine weitere Ausflucht: Ich habe es ganz einfach verschlafen. Tja, blöd. Die Zeit eilt dahin, und ich merke es nicht mehr. Auch Ihr beschreibt ja für Euch die für Feiertage und Ferien typische Bezugslosigkeit von Datum und Wochentag, die zeitliche Desorientierung.
Aber so geht und ging es mir schon über die vergangenen Wochen. Maßstabverlust. Es fällt mir zunehmend schwer, mein subjektives Zeitempfinden mit Uhr und Kalender zu synchronisieren.
Wir hatten uns vor zwei Jahren in unserem Weltraumstück in eine Kapsel versetzt, die mit ungeheurer Geschwindigkeit durchs All jagte; der Blick aus dem Fenster gab uns dazu aber kein Verhältnis; wir standen rasend auf der Stelle.
Das war damals Imagination – heute erlebe ich es real; zwar anders, dennoch sehr eindrücklich. Die gegenwärtigen Bedingungen deformieren mein Zeitgefühl, heute ist gestern und die Zukunft eine Konstruktion.
Und was ist die Zukunft? Was passiert nach der Pandemie? Die Vorstellung, dass das Leben wieder aufgenommen wird, wie es war anno 2019, quasi als 'status quo ante bellum', ist – das schriebst Du schon, Noa – absurd. Abseits der unwiderruflich veränderten politischen und ökonomischen Bedingungen steht die Frage, wie wir, wir Menschen, uns postpandemisch unumkehrbar verändert haben. Was wird allein diese wenigstens ein Jahr dauernde Zeit hauptsächlich indirekter Kommunikation mit oder aus uns gemacht haben?
Über den Erwerb neuer (technischer, ausgelagerter) Sinnesorgane bzw. das Gewöhnen an dieselben schrieb ich schon im vergangenen Brief. Das Erlebnis einer meiner besten Freundinnen beschreibt die Gewöhnung als Anekdote.
Die Geschichte sei gleich nacherzählt, zuvor aber zur Information: Meine Freundin arbeitet als Hochschullehrerin, und ihr tägliches Geschäft in den vergangenen Monaten war, Videokonferenzen einzuberufen und sie sowohl inhaltlich als auch technisch zu moderieren; vor allem die unterschiedlichen Lautstärken der Teilnehmer*innen galt es zu regeln, und so war es ihr in Fleisch und Blut übergegangen, zu laute Beiträge herunter- und allzu leise hochzupegeln. Was man am Mischpult eben so macht; nichts Ungewöhnliches in diesen Zeiten.
Nun denn. Folgendes trug sich zu: Meine Freundin fuhr mit ihrem Sohn im Auto. Sie hatten sich lange nicht (leibhaftig) gesehen, und es gab viel zu berichten. Der Motor dröhnte, der Sohn erzählte.
Meine Freundin verstand nicht immer alles und ertappte sich dabei, wie ihre Hand unwillkürlich zum Lautstärkeregler des Autoradios huschte ...
Interessante Fehlleistung: 'Ich dreh mal meinen Sohn lauter.' Wäre ihr das vor Corona passiert?
Noch interessanter: Offensichtlich verwechseln und vertauschen wir jetzt in beide Richtungen; war uns nach unseren Forschungen zu 'Ich binär' die Gefahr deutlich geworden, dass die virtuelle Welt Ersatz für die reale werden könnte, sind wir jetzt so weit, dass wir das seltene Erlebnis der leibhaftigen Begegnung mit der Bildschirmwelt der Videokonferenzen verwechseln.
Und wieder, scheint mir, dreht Corona nur an der Kurbel und beschleunigt, was vorher schon im Gange war.
Noch ein kürzliches Erlebnis. Ich spare mir jede Vorerzählung, hoffe, dass verständlich wird, um was es mir geht und schneide direkt hinein:
Wir saßen im Warmen, die dritte Flasche Wein ging auch schon zur Neige, und die Zunge war dem Herzen noch näher gekommen. Wieder kommt das Gespräch zurück zum Unvermeidlichen:
„Bäh! Corona, Corona. Es geht mir auf den Sack! Ich schaue auch keine Nachrichten mehr. Es ist immer dasselbe, und es gibt nur noch ein Thema. Keine Lust mehr. Und wenn man auf den Karten schaut, wo die Hotspots sind, weiß man doch, wer da wohnt: die rumänischen Großfamilien und so, die sich immer alle gegenseitig umarmen...“
Da wäre noch mehr Unverblümtes zu Tage gekommen, aber es wurde rechtzeitig eingeschritten.
Später fragte ich nach, wie dieser Auswurf zu erklären sei und erfuhr, dass an die Stelle der unbeliebten Nachrichten der Austausch am WhatsApp-Stammtisch getreten war; wo man sich in aller Verkürzung die Meldungen selber basteln kann; und das Ergebnis sind umarmende Rumänen als Virus-Spreader. Gefahr erkannt, ...
Auch so was ist nichts Neues. Auch das ein weiteres Beispiel, wie uns nicht-leibhaftige Begegnungen verändern.
Und was ist jetzt der übergeordnete Gedanke?
Es ist schon so nah! Es erschreckt mich, was da mit mir und mit Menschen in meinem nächsten Umfeld passiert, sei es im Kleinen, sei es die alltägliche Desorientierung betreffend oder die Tendenz zu bedenklichen Ansichten. Nicht das Virus, etwas anderes rückt mir auf die Pelle, vor dem ich allmählich Angst entwickle. Es ist ein Gefühl – keine konkreten Beweise, aber die Indizien mehren sich.
Ich habe noch keinen Begriff dafür. Ein Horrorklischee? Spielt unser nächstes Stück in der Geisterbahn?
Uuahahahaah...
So weit. Ich bitte abermals, meine Verspätung zu entschuldigen.
Wir sehen uns bald; bis dahin alle guten Wünsche und seid herzlich gegrüßt –
Euer Florian
Lieber Oli, lieber Florian,
als ich Deinen letzten Brief las, Oli, dachte ich auf der Hälfte der Strecke, dass Du gerade in ganz andere Denkgebiete gehst als ich. Am Ende aber trifft sich, wie so oft, doch etwas:
(…) und da glaubt der Mensch, er hätte eine Vorstellung von Zeit.
Mich verfolgt in den letzten Tagen immer wieder der Gedanke: „Woran würden wir es merken?“
Und diverse „Letzter Mensch auf der Erde“-Fantasien kommen mir in den Kopf. - Keine Sorge, dies wird kein Rückfall in den unsäglichen Mary-Shelley-Erguss!
Der Gedanke, der mich beschäftigt, ist eben die Zeit in diesem Zusammenhang.
Wir sind – oft auch gemeinsam – an so vielen Endzeit-Geschichten vorbeigekommen: Großes Solo für Anton, Barbarossa, Planet B … Und immer (wie auch sonst?!) setzen die Geschichten erst an einem bestimmten Punkt der Entwicklung ein. Gestern erst hab ich mir The Midnight Sky angeschaut (Hauptrolle und Regie George Clooney, also da kann nicht viel schiefgehen, und zu sophisticated wird es auch nicht: weihnachtstauglich).
Und hier liegt, ähnlich wie bei Anton und den anderen, der Beginn der Geschichte einfach mittendrtin oder sogar „danach“: Was passiert ist, ist total egal. Es ist etwas passiert, soviel muss reichen, und jetzt geht der Protagonist damit um.
Alternativ dazu rasen in anderen Geschichten die apokalyptischen Reiter im Zeitraffer durch's Bild, um dann ebenso möglichst schnell in der Phase anzukommen, in der die Protagonist*innen Strategien für's Überleben entwickeln oder letzte Dinge tun.
Im Bewusstsein, dass es letzte Dinge sind !
Aber was ist passiert? Woran und wann wurde deutlich, dass dies der Anfang vom Ende der Welt ist? Und vorallem: Wie lange hat das gedauert?
Am 13. März 2020 hatte ich, wie viele andere, den Impuls, ein Lockdown-Tagebuch zu schreiben. Da war dies Gefühl: Hier geschieht etwas total Surreales, das ich für mich und vielleicht auch andere festhalten möchte, um mir selbst und denen, die es dann noch interessiert, erzählen zu können, was geschah und wie sich das anfühlte. So irgendwie „Aus dem Inneren der Blase“ (da war es zum ersten Mal: dies Unter-Wasser-Gefühl!).
Seitdem ist soviel Zeit vergangen, fast ein ganzes Jahr. So viel Surreales ist Normalität geworden, ja selbst das Bewusstsein, dass Normalität nie normal war und es auch in Zukunft nie wieder eine Normalität geben wird, die noirmal ist, ist normal geworden.
Und trotzdem sehe ich, dass all meine Gedanken, mein Tun und Planen, Weiterdenken, sich in eine Zukunft richten, in der alles irgendwie wieder so sein wird, wie zuvor.
Und dies Zuvor ist absurd konkret:
Bitte alles zurück auf Stand Ende 2019!
Die Zeit läuft unter mir davon, und ich hänge mit meiner Denkweise an einem längst nicht mehr wirkenden Augenblick der Geschichte fest.
Wann kommt der Punkt, an dem wir wieder mit der Wirklichkeit synchron gehen?
Schon klar (eben: ich rede immernoch von der Zeit!), in geschichtlichen Dimensionen ist der erste Wimpernschlag noch nichtmal vollendet …
Gibt es soetwas wie einen mentalen, intellektuellen Kipp-Punkt? Und danach laufen wir wieder im Takt?
Kipppunkt.
Vorhin korrigierte ich einen Tippfehler:
In das Wort Surreal schlich sich ein F (schräg unterm R). Surfreal. Ich werde dies Wort behalten. Wer weiß, wofür ich es nochmal brauchen kann.
Surfreal.
Wir sehen uns. Später.
Grüße Jetzt nach Gleich
Noa
Liebe Kollegen,,,
was für ein Pisswetter!!!
Komme gerade von meinen Wartezimmerkonversationen nach Hause und bin klatschnaß...
Es tut aber gerade auch irgendwie gut, mal wieder über das Wetter zu schimpfen...
Und dann auch noch die MUTATION!!!
Mein Gott!!!
Sind wir nicht alle Mutationen???
Wie oft mutiert man in einem Menschenleben???
Mutieren wir nicht viel zu langsam???
Sind wir nicht sowieso die langsamste Spezies???
Wie lange braucht es nochmal bis so ein Menschenleben alleine kackengehen kann,,,essen,,,sich verständlich machen kann???
Ja, ja - „Gut Ding will Weile haben“, mag jetzt so´n Oberschlaubi sagen und ausführen, dass unsere kognitiven Fähigkeiten dafür dann umso überragender sein werden.
Hierzu fällt mir ein Dialog ein, geschrieben von Tom Robbins, aus seinem Roman „Even Cowgirls Get The Blues“, S. 343-345, Rowohlt Verlag, 11. Ausgabe Februar 2008.
Hirn:
Warum so verdrossen, Genosse?
Daumen:
Ich dachte, du brauchst nicht erst zu fragen. Ich hab einfach die Schnauze voll davon, das ist alles.
Hirn:
Die Schnauze voll von was?
Daumen:
Die Verantwortung zu übernehmen. Mich den „Eckstein der Zivilisation“ nennen zu lassen. Mich behandeln zu lassen, als wäre ich eine gottverdammte Metapher für die Zivilisation. Ich hatte nichts damit zu tun.
Hirn:
Nun ja, ich würde nicht so weit gehen, das zu behaupten. Der Zivilisationsprozeß erfolgte als Ergebnis von Fortschritten der Technologie. Bis der Mensch Werkzeuge hatte, Werkzeuge, die Mühen ersparten und ihm auch einen räuberischen Vorsprung vor den anderen Tieren einräumten, hatte er nicht die Muße, seine Sprache zu entwickeln oder seine psychischen und physischen Kapazitäten zu verfeinern. Du, Daumen gabst dem Menschen die Fähigkeit, Werkzeuge zu benutzen. Wenn schon nichts anderes, brachtest du ihn erst auf den Weg der Zivilisation. Und warst du denn nicht immer bei ihm, hast du ihm nicht geholfen auf jedem Schritt des Weges?
Daumen:
Okay, aber ich war unschuldig. Ich hatte keine Kontrolle. Ich wollte ihm nur helfen, bunte Kieselsteine aufzuheben, Obst zu pflücken, Blumen festzuhalten, Schüsseln und Körbe anzufertigen, Musik zu machen, zu weben; ich wollte ihm helfen, sich Splitter herauszuziehen und das Fleisch der Geliebten zu liebkosen. Ich wollte nicht an all dem anderen Zeug beteiligt sein. An den harten Sachen, diesem Töten und Verstümmeln, dieser Überentwicklung, dieser Unterwerfung der Natur und diesen Versuchen, Monumente gegen den Tod zu errichten. Ich habe nichts dergleichen gewollt, aber ich habe dazu beigetragen, weil du mich dazu angehalten hast, du Schwanz!
Hirn:
Der Schwanz hat eine Menge mit Zivilisation zu tun, da hast du recht, aber das mußt du mit dem Schwanz aushandeln. Ich bin das Hirn. Erinnerst du dich?
Daumen:
Wie könnte man das vergessen?
Hirn:
Schlimm, schlimm. Du benimmst dich ziemlich irrational, nicht wahr?Willst du wirklich mich für die Zivilisation verantwortlich machen?
Daumen:
Genau. Diese zerknitterte Oberfläche von dir, diese graue Substanz in deiner Rinde ist bei den niedrigeren Tieren beinahe inexistent, aber kaum hattest du dich auf das evolutionäre Wachstum eingelassen und Geschmack an den aufgeblasenen abstrakten Gedanken gefunden die du mit dieser Rinde denken konntest, hast du sie immer größer werden lassen, bis sie schließlich achtzig Prozent deines Volumens aus machte. Dann hast du angefangen, verschrobene Ideen zu spinnen, so schnell du nur konntest, und Befehle an hilflose Anhängsel wie mich auszuspucken, die uns zwangen, nach diesen Ideen zu handeln und ihnen Form zu geben. Daraus ging die Zivilisation hervor. Du hast sie aus deinem Willen geschaffen, weil du mit deiner übergroßen Rinde und allem Drum und Dran den Kontakt zu den anderen Tieren und vor allem den Pflanzen verloren hattest, entfremdet wurdest und zur Entschädigung die Zivilisation aufbauen ließest. Und es gab nichts, was wir anderen hätten dagegen tun können. Du warst eingemauert da oben in deiner festen Knochenburg mit einem zerebrospinalen Wallgraben drumrum, verkonsumiertest zwanzig Prozent der Sauerstoffzufuhr des Körpers und rafftest einen überproportionalen Anteil sämtlicher Nahrung an dich, du gieriger Bastard; du hattest die Schaltknöpfe der Muskelmotoren unter Kontrolle, und wir anderen hatten keine Möglichkeit, dich zu packen und davon abzuhalten, die Wonnen der Welt zu verderben.
Hirn:
Ja, ja, da ist etwas Wahres dran. Ich bin das bevorzugte Organ des Körpers, aber nur darum, weil meine Arbeitslast so schwer und so lebenswichtig ist. Und wie du sagst, habe ich gewaltig zur Zivilisation beigetragen. Ohne mich hätte sie nicht stattfinden können, wie sie auch ohne dich nicht hätte stattfinden können. Aber ich war genauso unschuldig wie du.
Daumen:
Wie könntest du? Du brachtest die Wünsche zum Ausdruck, du formuliertest die Vorsätze, du gabst die Befehle, du warst Kommandeur.
Hirn:
Du verstehst mich nicht, ja? Du glaubst mich zu kennen all das halbgebildete Geschwätz über die Hirnrindenentwicklung , aber du kennst mich nicht wirklich. Oh, ich bin sicher du weißt, daß ich ein elektrochemisches Netz von dreizehn Milliarden Nervenzellen habe, und vielleicht ist dir auch klar, daß in manchen meiner Knoten und Spalten, ein Glück für dich, daß du so, glatt und ganz bist, diese Zellkörper so dicht gepackt sind, daß sechs Millionen in einen Kubikzentimeter passen, und all diese Baumwollfasern summen und pulsieren und blitzen, und keine von ihnen ist der anderen gleich, ja, vielleicht weißt du das alles, aber du wirst niemals wissen, wie schwer es ist, elektrochemisch zu sein, ja, und ich übertreibe nicht, wenn ich sage, ich bin das komplizierteste und leistungsfähigste Ding in der Natur.
Daumen:
Das ist die traurigste Geschichte, die ich je gehört habe.
Hirn:
Ich suche nicht dein Mitleid; nur dein Verständnis. Hab Geduld mit mir, und wenn ich abschweife, vergiß nicht, ich habe keinen so engen Horizont wie du. Hör mir jetzt zu. Da ist ein unaufhörlicher Schauer von einlaufenden elektrischen Impulsen die auf mich niederprasseln wie der Regen auf ein Tropendach. Ich bin einem niemals endenden Sperrfeuer von Signalen ausgesetzt, die meine Nervenzellen meine Neuronen, von mir aus zwingen, unaufhörlich zu feuern wie chinesische Knallfrösche. Bei jedem dieser Impulse werden elektrische Ladungen verändert, Chemikalien freigesetzt, Spalten öffnen und schließen sich, Ionen treten aus einem Neuron aus und in ein anderes ein; es ist unglaublich kompliziert, und der ganze Zyklus findet in einer Tausendstelsekunde statt. Eine Tausendstelsekunde und da glaubt der Mensch, er hätte eine Vorstellung von Zeit. Ha!
SCHIMPFEN wollte ich eigentlich bis zum Ende des Briefes, aber das Fest der Liebe steht an und so will ich Euch nicht länger langelesenweilen und wünsche Euch ein entspanntes Weihnachten, ein lustiges zwischen den Jahren, und einen nachdenklichen Rutsch ins neue Jahr!!!
Fühlt Euch dermaßen distanzlos gedrückt, wie´s geht
Euer Oli
Lieber Florian, lieber Oli,
um gleich mit dem Brief in den Kopf zu fallen:
Ich bin sehr dafür, auch Deinen letzten Brief, Florian, zu veröffentlichen. Gerade den, jetzt erst recht, denn mehr denn je sehe ich uns auf dem, unserem, richtigen Weg.
Nachdem ich in den letzten Monaten und Wochen (auch) damit beschäftigt war, ein Gefühl des Versagens zu verdrängen,
Wir schaffen es nicht – ich schaffe es nicht, eine Perspektive zu entwickeln. Was ist eigentlich mein Problem? Alle (?!) anderen kriegen doch auch irgendwas zustande: Video-Zoom-Theater-Hybride, Theater-Streaming, Video-Walks, Audio-Walks, interaktive Durch-die-Wand-Walks! Warum krieg ich das nicht hin? Woher mein Unbehagen bei all dem?
finde ich gerade in dem endlich formulierten Ich-weiß-nicht-weiter, Mir-fehlt-Dies und Ohne-Das-kann-ich-nicht-produktiv-werden den Kern und damit vielleicht die Perspektive unseres gemeinsamen Arbeitens:
Wir brauchen tatsächlich nicht viel, aber dies Wenige ist unabdingbar:
Wir brauchen uns, ich brauche Euch und einen großen leeren Raum.
Ohne das ist alles Nichts:
Wir reden vom Überleben als Künstler*innen!
Satt und sauber überleben nur Maikäferlarven – und auch die hoffen auf den Aufbruch im Frühjahr.
Für unser geistig-seelisches Überleben als Künstler*innen, als Theaterschaffende, als Kollektiv, brauchen wir die persönliche Begegnung und den Raum der Möglichkeiten.
Kein digitales „Format“ ersetzt irgendetwas davon: Was immer da war (behauptet wurde), ist spurlos verschwunden, wenn der Bildschirm wieder schwarz ist. Kein Satz schwingt im Raum nach, kein Wind, kein Geruch, keine Temperatur. Als wäre nichts gewesen. Weil nichts war. Weil nichts wahr.
In über 30 Jahren (Hallo?!) freien Kultur- und Theaterschaffens sehe ich mich einen Raum nach dem anderen aus dem Boden stampfen, mittragen, entdecken und auch-wollen. Immer wieder der gleiche Wunsch, der gleiche Versuch und die gleiche Falle: Da soll ein Raum der Möglichkeiten sein, in dem wir uns treffen wann und so oft wir wollen, der uns vor Kälte und Regen schützt, ein Ort für unsere Visionen. Und sobald solch ein Raum vorhanden ist - ein Hanomag-Gelände in Hannover, eine Kulturfabrik in Hildesheim, ein Theaterhaus an all seinen Orten, ein winziges Theater zwischen den Dörfern – greift das immer gleiche Phänomen:
Der Raum lebt und muss gefüttert werden, wir arbeiten, um ihn zufrieden zu stellen. Er ist ein Nimmersatt. Und irgendwann reiben wir uns die ausgebrannten Augen und sehen, was geworden ist. Der Raum ist noch da. Aber da ist kein Platz mehr für uns: Wir können es uns nicht mehr leisten, dort einfach nur zu sein, um zu arbeiten. Der Raum ist sein eigenes Projekt geworden, beschäftigt Menschen, die nur damit beschäftigt sind, ihn zu beschäftigen.
Und wir sitzen wieder zu Hause, zählen das Kleingeld und rechnen, wann wir uns für wie lange wieder in diesem Raum begegnen können.
Ich will ein bedingungsloses Grundeinkommen und einen bedingungslosen Raum.
Ich verspreche, dort zu schaffen. Ich kann ja gar nicht anders. Wenn ich anders könnte, hätte ich dies unbequeme Leben längst eingetauscht und wär mit den anderen rauf auf die Bäume. Ich kann nicht anders und ich will nicht anders.
Wusstet Ihr übrigens, dass der Quastenflosser einem Menschen genetisch näher ist als einem Fisch? Und: Ich habe tatsächlich gar kein Problem mit der Vorstellung eines Organladens für Prä-Pottwale.
Wir sehen uns morgen :)
Noa
'Brief ' kommt vom lateinischen 'brevis' für kurz. Insofern ist ein kurzer Brief eine Tautologie, ein langer Brief ein Oxymoron. Viel Spaß beim letzteren.
Hildesheim am Mittwochnachmittag, etwa zehn vor vier,
oder am Freitag, Samstag, Montag oder Dienstag zu irgendeiner anderen Zeit
Liebe Leute,
und Oli, danke für Deinen Brief. Das war der motivierende Klaps, der mir fehlte, und Dein Brief beruhigt mich insofern, als dass ich, ebenso wie Du es tust, Euch auch was vorjammern darf. Ich bewundere die Leichtigkeit, mit der Du „Es geht mir schlecht!“ schreibst, Oli, während ich mir immer wieder meine halben Seiten durchlese und denke: Was soll das andauernde Klagen? Es gibt doch auch so viel Gutes zu berichten. – Aber, ähm, nein, gibt es nicht, es gibt eigentlich gar nichts zu berichten, weil nichts passiert, weil in meiner momentanen Situation alles stillsteht – außer vielleicht die dröhnende Straßenbaustelle vor meiner Haustür, die sich seit Wochen in quälender Langsamkeit von der innerstädtischen Hauptstraße auf den Weg zum Stadtrand macht: Abschnitte werden abgesperrt, gefräßige Maschinen vorgefahren, Straße aufgerissen, aufgegraben, irgendwelche Rohre, Leitungen, Verbindungen verlegt, zugeschüttet, verdichtet, wiedereinzementiert, einen Abschnitt beendet und entsperrt und weiter geht’s mit dem nächsten, kaum zwölf Meter vorangekommen.
Und während es draußen dröhnt, keimen Worte in mir und welken, reifen, gären und faulen. Seit Tagen. Es ist ein Wirrwarr von Gedanken und Formulierungen, die mir von einem Tag auf den anderen mal sinnvoll, mal überflüssig, mal absurd aber schlau und schlüssig, dann wieder voller Klarheit, aber leider lapidar und geschwätzig vorkommen. Immer wieder setze ich mich vors leere Blatt in der Hoffnung, dass sich das Dickicht lichtet und Ordnung mit dem Schreiben kommt. Immer wieder kommt ein halber Text zustande, und immer wieder denke ich: Wieder nichts und wird wohl nichts mit Briefen in nächster Zeit.
Aber jetzt! Egal wohin er mich führt, gegebenenfalls auch ins Leere, in die Irre oder vor die Wand.
Von Anfang an wollte ich, in der Hoffnung, dass ich für unsere Kunst, unseren Raum, unser Theater Strategien oder Alternativen finde, ganz allgemein über Entwicklung und Evolution schreiben. Das ist aber eben schlecht, wenn sich, wie gesagt, in meinem Leben momentan so gar nichts entwickelt, wenn sich Zukunft und Vergangenheit zum Verwechseln ähneln, und ich mit Bestürzung bemerke, dass nichts wächst. Das ist das einzig Neue für mich, aber das Entdecken einer Fehlstelle ist nicht wirklich eine Entdeckung.
Zumindest kann diese Erkenntnis immer noch meinen inneren Widerstand nähren, also rede ich jetzt, sei's drum, von Evolution und wiederhole Deine Frage, Noa: Wer bin ich – Wal oder Quastenflosser?
Der Selektionsdruck trieb diese Lebewesen einst an Land beziehungsweise (zurück) ins Wasser und eröffnete ihnen neue Lebensräume und Überlebensstrategien.
Zwei Fragen zuerst:
Ist es zulässig, diese Äonen dauernden natürlichen Vorgänge der Schöpfung mit den gegenwärtigen und im Vergleich lächerlich kurzfristigen kulturellen und gesellschaftlichen Entwicklungen zu vergleichen?
Voreilige Antwort: Ja. Es ist ein Gedankenexperiment, und wenn es zu Erkenntnissen hilft, ist es erlaubt.
Aha. Aber wenn es so verstanden – und auch von niemandem wahrhaft bestritten – momentan einen gesellschaftlichen Selektionsdruck gibt, der auf weitere Sicht das Theater lahm legt, läge es dann nicht auf der Hand, dem nachzugeben und was anderes zu machen?
Ebenso voreilig: Nein!
Aber warum denn nicht? (Das wäre schon die dritte Frage.)
Weil ich nicht will! Weil ich... -
Tja, hier fehlen die Worte. Ich hatte an diese Stelle schon einiges hingeschrieben und alles wieder gestrichen. Trotz und Pathos schienen mir unangebracht, das meiste wurde entweder schon längst formuliert oder war langweilig; und ich will auch irgendwie auf etwas anderes hinaus – glaub ich...
Für den Moment soll genügen, dass ich nicht aufgebe.
Und ab hier will ich weniger voreilig sein.
Treffen wir uns also wieder unter Wasser, betrachten die Ordnung der Wale, bevorzugt die verzweigte Familie der Zahnwale und im Speziellen
Den großen Pottwal:
Ich stelle mir seine Lebensweise vor: Er taucht nach gelungener Jagd auf und entlässt überschüssige Atemluft. Nach einer Ruhepause holt er tief Luft, einmal, zweimal, lässt den größten Teil seines Atems über Wasser, taucht wieder. Bis zu zweitausend Meter tief, um dort sich mit seiner bevorzugten, annähernd genauso großen und starken Beute, dem Tiefsee-Calmar, zu messen, mit ihm zu ringen, ihn im besten Fall zu besiegen und ihn dann zu verschlingen.
- ??? -
Warum, in aller Welt, sucht sich eine Spezies so ein unbequemes Leben? Es geht doch viel einfacher, siehe die Lebensweise seiner Geschwister, Vettern und Cousinen.
Zur deutlichen Korrektur: selbstverständlich ist aus wissenschaftlicher Sicht die Behauptung falsch, dass sich eine Gattung oder Spezies aus freiem Willen entscheiden kann, wo und wie sie leben will. Man stelle sich vor, dass so ein Prä-Pottwal den Entschluss fällt: 'Ich mach mal einen auf Tiefsee', schwimmt zum nächsten Organladen und holt sich, was man für ein solches Leben so braucht:
-
Ein hochleistungsfähiges Ortungssystem für die Orientierung in der Finsternis der Tiefsee
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extra Sauerstoffspeicher für lange Tauchgänge (bis zu 100 Minuten)
-
einen speziellen Mechanismus zur Überwindung des Stickstoffproblems bei Maximaldruck
-
und nicht zuletzt einen Schallerzeuger, der, um seiner Beute die Sinne zu rauben, Töne hervorbringt, die lauter sind als alle Presslufthämmer vor meiner Tür.
Eine beachtliche Sammlung von Spezialorganen, die im Tierreich ihresgleichen suchen. Die Wissenschaft rätselt noch immer, wie das alles funktioniert.
Aber weiter und siehe oben: Die Arten, so die Lehre der Evolution, entwickeln sich durch Selektionsdruck und über sehr lange Zeit. Die unterschiedlichen Habitate erfordern Anpassung an die Gegebenheiten, und so verändern sich die Gattungen und Arten ihrer jeweiligen (neuen) Umwelt entsprechend. Die Spezies Pottwal lebt als Lungenatmerin und Großräuberin sowohl an der Wasseroberfläche als auch in der Tiefsee, und also schenkte ihr die Natur alles Nötige. Das ist ein unwillkürlicher Vorgang; ein einzelner Pottwal trifft da keine Entscheidung.
Aber ich frage trotzdem: Warum dieser Aufwand? Warum diese Qualen und diese Gefahr? Es gab oder gibt doch keine Not. Wenn Individuen einer niederen Spezies in solch abseitige Habitate verdrängt werden, kann ich mir noch vorstellen, wie so etwas in Gang kommt. Aber der Pottwal – riesenhaft, stark, aber vor allem vernunftbegabt und ausgestattet mit dem größten Gehirn auf Erden, mit einer astronomischen Unzahl von Neuronen und Synapsen – lässt sich doch von einem simplen umweltbedingten Selektionsdruck nicht ins Bockshorn und in die lebensfeindliche Tiefsee jagen.
Dazu kann niemand beweiskräftig etwas sagen. (Ich wünschte, es gäbe einen Unterwasser-Autor vom Schlage Hararis, der etwa das Buch 'Eine kurze Geschichte der Pottwalheit' geschrieben hat.) Aber ich wage eine Spekulation, kehre noch einmal zurück und stelle mir die Gruppe der Prä-Pottwale in grauer Vorzeit vor.
Sie entwickeln einen merkwürdigen Wettbewerb: Wer kann am tieften? Nur so zum Spaß.
Von seinen nächsten Verwandten, Tümmlern, Orcas, Schweinswalen kennen wir ähnlich verspieltes Verhalten. Sportgeist, Ehrgeiz, nicht zuletzt Neugier wären unsere menschlichen Begriffe dafür, und hinter diesen Kategorien verbirgt sich der freie Wille, die individuelle Entscheidung.
Könnte man hier dann doch den Ansatz sehen für einen selbstbestimmten Selektionsdruck? Wieder fabelhaft gedacht: Das Pottwalindividuum spricht mit erpresserischer Absicht zur Schöpfung: „Pass mal auf, meine Liebe: Ich tauche so lange lebensgefährlich tief, bis du und deine dämliche Evolution mir die geeignete Ausrüstung zu Verfügung stellen.“ Und noch kompromissloser ginge die Rede weiter: „Ich habe mir da schon mal was ausgedacht.“
Dieser Gedanke ist zugegeben waghalsig, aber wenn das in Ansätzen so stimmt, wäre der Pottwal der selbstbestimmte Erfinder und Ingenieur seines eigenen Phänotyps.
Und das wäre zugleich die mögliche Parallele zwischen Pottwalen und Menschen: Dass sie selbst die eigenwilligen Architekten ihrer Lebensart sind.
Ingenieure und Erfinder sind Menschen sowieso. Wir bauen uns in der Tat als begabte Werkzeugmacher unsere Ausstattung selbst, gehen in den nächsten Laden, kaufen Kleidung, Brillen und Smartphones. Der Cyborg (im erweiterten Sinn) ist weder eine zukünftige noch gegenwärtige Entwicklung, schon gar keine Vision, sondern eine Tatsache und für den Menschen allgemein konstitutiv. Schon in dem Moment, als der Mensch z.B. mit Hilfe eines Speers die Fähigkeit seiner Hand erweiterte oder seine haarlose Haut mit Fellen schützte, durchbrach er die Grenzen seines gesetzten Habitats und verschob die Gesetze des natürlichen Selektionsdrucks.
Ja, ich weiß. Unter Cyborg versteht man normalerweise einen durch künstliche Implantate und Prothesen verbesserten menschlichen Körper. Aber wer sagt denn, dass – wie beim Pottwal im riesenhaften Kastenkopf – sich unsere neuerworbenen Organe im Körper befinden müssen? Der Mensch von heute hat seine erweiterten Sinne und die Hälfte seines Gehirns mittlerweile in der Hosentasche, und wir haben uns in kürzester Zeit so sehr daran gewöhnt, dass der Verlust des kleinen Geräts für viele gleichbedeutend ist mit Taub- und Blindheit, und sie fühlen sich dann ähnlich orientierungslos wie der Riesencalmar in der Tiefe nach dem Angriff des Pottwals mit seiner Lärmkanone.
Vorteil Pottwal. 'Omnia mea mecum porto' sagt der Lateiner: Alles was ich brauche, habe ich dabei.
Nachteil Homo Sapiens: Der Erwerb neuer Werkzeuge machte ihn nicht freier, sondern trieb ihn in die Abhängigkeit. Der Mensch überwand den natürlichen Selektionsdruck, um sich dem gesellschaftlichen auszusetzen.
- - -
Was will ich eigentlich mit all dem sagen?
Ich weiß es nicht genau.
Es tut mir leid, Freunde. Ich hatte Euch gewarnt. Jetzt musstet Ihr den ganzen Kram lesen, wartetet gespannt auf die kluge Konklusion und dann – dedömm.
Aber vielleicht ist es ganz einfach: Ich glaube, ich wäre gerne Pottwal, ein Jäger in der finstren Tiefsee.
Oder anders: Ich wäre gerne (wieder) so ein menschlicher Pottwal, der mit leeren Händen in den schwarzen Raum taucht, um dort zu suchen, bis er das Monster findet. Aus Spaß, Neugier, Ehrgeiz, Hunger. Das jedenfalls war bis letztes Jahr mein Privileg als Freier Theatermacher, und so lange war auch ich der Ingenieur meiner eigenen Evolution.
Was für ein Schatz!
Ich kann und will mir nicht vorstellen, das aufzugeben. Ich will nicht aufhören zu wachsen.
Und was ist das schon für ein lächerlicher gesellschaftlicher Selektionsdruck, als dass er mich verjagen könnte.
Obwohl – sieht zur Zeit nicht gut aus, oder?
Draußen rumort die Baustelle. Noch weiß ich mir nicht zu helfen.
Ich hoffe, Ihr seid alle wohlauf. Es grüßt Euch –
Florian
Liebe Kollegen,
da war ich nun bei meinen zahlreichen Arztterminen, habe viele Gespräche geführt, wobei man die
durchschnittlichen 8 Minuten, die sich ein Arzt Zeit nimmt, deutlich zu wenig sind, um etwas beruhigter
nach Hause gehen zu können.
Am Anfang hieß es noch: „Herr Dressel, das ist eine schwierige Zeit für uns ALLE, und glauben
sie mir, sie sind nicht der EINZIGE, dem, mit Beginn der PANDEMIE, die psychische BALANCE
aus dem GLEICHGEWICHT geraten ist. Sie sollten das nicht zu ERNST nehmen. Es ist erst einmal
eine ganz normale REAKTION unseres KÖRPERS und dient dazu, das wir angesichts der augenscheinlich
unsichtbaren GEFAHR uns zurückziehen, in sicheren Gefilden bleiben.“
Einige Gespräche später, in denen ich dargelegt hatte, dass ich mich mit diesem Zustand der
paranoiden Dauerbelastung nicht gut fühle und ob es vielleicht nicht doch besser wäre, dass ich
mich infiziere und er mich mit einem Infizierten in Kontakt bringen könne, da ja meine
Demophobie mich daran hindern würde an dem noch stattfindenden öffentlichen Leben teilzunehmen,
da sagte er: „Herr DRESSEL, das mag sich jetzt etwas zynisch anhören, aber ich VERORDNE
ihnen GESELLSCHAFT. Ich weiß, durch die BESCHRÄNKUNGEN ist das etwas schwieriger, aber
sie werden ja wohl Freunde, Familie oder Bekannte haben mit denen sie sich austauschen können.“
Da war es schon wieder
Auf dem Nachhauseweg kam mir ein Gedanke, der wie ein Erkenntnisblitz durch meine Synapsen
schoss: Der Grund meiner vielen Arztbesuche, so schien es mir, lag daran, daß ich dem Ratschlag
des Arztes schon längst Folge leistete. Unbewußt-automatisch hatte ich angefangen mir
gesellschaftliche Ereignisse zu suchen. (Trotz meiner Demophobie)
Und die Arztbesuche schienen mir die wohl am sichersten und vielversprechendsten.
( Kommunikation mit den ArzthelferInnen, dem Arzt, mit den anderen Patienten – so was
wie „Guten Morgen … Gesundheit … geht schon … danke... aber natürlich … Auf
Wiedersehen“, Kommunikation am Telefon um den nächsten Termin zu klären. Wobei ich
meistens darauf verzichtete, da es ohne Termin einfach spannender war).
„Herr Dressel, wo drückt es denn jetzt schon wieder? Sollen wir ein Termin machen?
Jetzt sofort? Aber das kann dauern. Ja, dann setzen sie sich mal ins Wartezimmer.“
Und mehr wollte ich nicht.
Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Arzt oder
Apotheker...
Jetzt schreibe ich schon die ganze Zeit über me, myself and i und vergesse ganz mich nach Eurem
Befinden zu erkunden. Ich hoffe, Ihr seid wohl auf und freut Euch auf den Impfstoff......................
aber wahrscheinlich sind wir in der Impfstoffkette ganz am Schluß. Was ja nicht unbedingt schlecht
sein muß.........
Ich versuche im nächsten Schreiben positivere Gedanken und Erlebnisse zu Papier zu bringen.
Mein Bedürfnis nach Wartezimmern macht sich gerade wieder breit.
Gehabt Euch wohl und bis bald
Oli
Liebe Kollegen,
es ist schön, von Euch zu lesen.
Und ich kann sehr gut nachempfinden, was Du geschrieben hast, Florian:
Es steckt im Briefeschreiben drin, die Abwesenheit, das Getrenntsein, das ausdrücklich und offensichtlich nicht (!) Im-gleichen-Raum-Sein.
Das scheint mir der Januskopf der allgegenwärtigen Video-Konferenzen:
Für die kurze Spanne des „Meetings“ täuschen wir uns ja tatsächlich darüber hinweg, dass wir uns eben nicht wirklich treffen. Wir kommen uns nicht nahe genug, um uns wirklich wahrzunehmen, aber zu nah um so gründlich zu formulieren und nachzudenken, wie wir es tun, wenn wir schreiben.
Um uns herum also tobt die digitale Revolution und die herbeigelogene Nähe auf Distanz, die ja gelogen ist und nicht gelogen, die ich suche und verfluche - und wenn ich nicht aufpasse, wird ein Reim draus - und wir driften ab in vordigitale, vortelefonable Briefeschreiberei.
Mein Theatertrotz kreist in diesen Tagen unverändert um den Raum:
Der schwarze Raum der Möglichkeiten. Die Abwesenheit von jeder Behauptung, die jede Behauptung möglich macht. Die unbemalte Leinwand, auf der ich Skizze um Skizze, Studie um Studie aneinanderreihen kann, um schließlich das Bild zu gestalten (ganz wörtlich hier: das Bild), in dessen Rahmen ich sagen möchte, was zu sagen ist.
Den Raum!
Wenn nicht der Ort selbst Anlass des Theaters ist, scheint mir der Versuch, in theaterfremden oder gar Außenräumen (wie jetzt von so vielen Seiten hilfreich vorgeschlagen) Theater zu machen wie der Versuch, einen Ölschinken mit Aquarellfarben zu übermalen. Das wird allenfalls Andeutung, Kompromiss, Mit- und Weitererzählung, aber eben doch nie ein neues, eigenes Bild.
Dass wir uns unter Wasser treffen, lieber Florian, ist tatsächlich bemerkenswert. Ich werde das weiter verfolgen.
Lieber Oli, ich verstehe gut, was Du beschreibst: Es ist schwer geworden, sich in dieser Situation aus andauernder abstrakter Bedrohung, permanenter Selbstbeschränkung und unklarer Perspektiven, in der ein Projekt nach dem anderen vor die Wand läuft, noch „normal“ zu verhalten.
Ich merke, wie sehr ich mich auf jeden Arbeitsanlass stürze, der endlich wieder meine schaffende, künstlerische Kreativität herausfordert – und nicht mein Improvisatonstalent, meinen „Die-Künstler*innen-bleiben-kreativ“-Dauer-Output (Ja was denn sonst, verdammt?!), meinen Zweckoptimismus, meinen Trotz.
Und wenn ich von anderen, Nicht-Künstler*innen, höre, dass dieser zweite Lockdown doch schon einfacher sei, man habe sich gewöhnt, habe seine Rituale, Fluchten, Möglichkeiten – dann kann ich nicht mithalten:
Nein, dieses Déja-Vu ist schlimmer, es ist frustrierender, vernichtender. Es kostet immens viel Kraft.
Und ich hoffe und wünsche mir, dass Du, Oli, und wir anderen einen gemeinsamen Weg da durch finden - und am Ende (was immer das ist) noch da sind: als Künstler*innen, als Kollektiv, als Kolleg*innen und Freund*innen, die einen weiten Weg zusammen gegangen sind und weitergehen.
Ich freue mich, Euch am Freitag zu sehen – und werde erst nach Ende des „Meetings“ wieder fluchen.
Noa
P.S. Ich weiß nicht, ob ich ein Quastenflosser auf dem Weg ans Land oder ein Wal auf dem Weg zurück ins Wasser bin.
Die Weitsicht (?) der Wale, die sich gegen ein Leben an Land, gegen die Revolution der Lungenatmung für den Weg zurück entschieden haben, ist mir unbegreiflich und berührt mich seltsam.
Briefe schreiben verbinde ich immer mit der Tätigkeit des handschriftlichen Schreibens, aber meine Sauklaue, kann ja keiner lesen....
Freut mich zu hören, daß Ihr bester Dinge seid bzw. versucht das Beste daraus zu machen aus dieser
vermaledeiten Zeit.
Liebe Freunde,
in letzter Zeit habe ich bei mir einige Besorgnis erregende Veränderungen wahrgenommen.
Es muß schon etwas gegärt haben, aber Auslöser war letztendlich Dein Brief, liebe Noa.
Um es genauer zu sagen: es waren die beiden Worte veordnet und verabredet am Anfang Deines Briefes.
Diese beiden Worte, brachten das Faß der Gefühle und Ängste, die dort mehr als stetig hineintropfen, zum überlaufen. Und ich meine hier eher die unangenehmen Gefühle.
Hochgefühle sind rar geworden.
Ängste kommen und gehen im Laufe des Lebens, wobei ich zwischen akuter Angst vor einer potentiell gefährlichen Situation und dauerhaften Ängsten vor etwas unterscheide.
Dauerzustand. Liegt der im Auge des Betrachters?
Meine Ängste und Sorgen der letzten Zeit benötigen nicht durchgehend die Lauerstellung für Flucht oder Angriff. Normalerweise sorgen die biochemischen Vorgänge in meinem Körper dafür, daß die Zeitspanne zwischen Aufnahme einer potentiell gefährlichen Situation und Reaktion darauf, winzig klein ist und mein Körper das aktive Denken so weit wie möglich blockiert. Das ist von Mutter Natur ziemlich schlau eingefädelt. Es geht darum, mich reflexartig auf eine potentiell gefährliche Situation einzustellen und den Fokus einzig und allein auf dieser Situation zu halten, denken ist da nur hinderlich.
Nun ist es aber so, daß, wenn ich zum Beispiel meinen verrosteten Drahtesel durch die Fußgängerzone über das Kopfsteinpflaster schiebe, das laute Klappern nicht ignoriere, sondern mich eher wie ein Pestkranker, der sich mit seiner Rassel zu erkennen gibt, fühle...
Die Gefahr, die mich, die uns umgibt, ist mit dem bloßen Auge nicht sichtbar, aber sie ist da.
Und jeder trägt sie theoretisch mit sich rum. Und das seit Monaten.
Diese Situation sorgt bei mir dafür, daß ich angefangen habe Phobien zu entwickeln.
Eigentlich wollte ich jetzt wieder auf die beiden Wörter verordnet und verabredet zurückkommen, aber mein nächster Arzttermin steht an und ich muß weitere Ausführungen an Euch vertagen.
Haltet durch in Euren Biotopen und Kapseln, bleibt gesund und bis auf ein Baldiges.
Euer Oli
Liebe Kollegen,
um die Wahrheit zu sagen: ich empfinde momentan nur mittelmäßige Freude, zu trübe sind Wetter und Gedanken. Dennoch hoffe ich, dass sich meine Stimmung nicht allzu sehr auf den Inhalt meines Briefes niederschlägt; man soll seinen Freunden doch nicht mit schlechter Laune auf die Nerven gehen, vor allem nicht mit geschriebener schlechter Laune. Hölderlin z.B. beginnt einen Brief an seine Mutter mit den – sicherlich etwas verdrehten und zum abermaligen Lesen auffordernden – Sätzen: „Ich schreibe Ihnen, so gut ich imstande bin, Ihnen etwas zu sagen, das Ihnen nicht unangenehm ist. Ihr Wohlbefinden und die Beschaffenheit Ihres Gemüts sind mir unveränderlich angelegen.“ - Recht hat er, der Dichter, und so soll sein Wort mir Gebot sein.
Nun denn. Zunächst einmal herzlichen Dank für Deinen inspirierenden Brief, liebe Noa, und apropos Fische: Folgendes ist mir heute morgen im Traum widerfahren, aber damit Ihr das seltsame Bild versteht, muss ich etwas ausholen.
Ich plante, wie ich es Euch vielleicht schon erzählt habe, für dieses Jahr ein Sommerkonzert in einem gemütlichen kleinen Freibad auf dem Lande. Am lauen Sommerabend sollte das Publikum am Beckenrand sitzen und der Chor von der anderen Seite übers Wasser singen. Alles wurde vorbereitet, man sprach mit Gemeindeverwaltung und Bademeister, ein Termin wurde gesetzt Ende Juni, ein Programm einstudiert vom Schwimmen, Planschen, Baden... und dann – es folgt keine Überraschung – fiel alles wörtlich ins Wasser und der Tag des Konzertes verstrich noch wörtlicher sang- und klanglos.
Eines von vielen Projekten dieses Jahr, die baden gegangen sind (zu dritten!). Aber um dieses Schwimmbadkonzert tat es mir besonders leid; ich träumte vom Start einer langjährigen Konzertreihe, dem Garmissener Freibadsingen, einem festen Termin im Dorfkalender, und der Traum hing mir lange nach. Als Tagtraum.
Bis heute Morgen während des Übergangs vom Schlaf ins Halbwache, als das Singen im Schwimmbad in einen echten Traum auftauchte: Ich dirigierte meinen Chor in besagtem Freibad und wunderte mich träumend, warum der Gesang so dumpf klang. Bis ich schließlich feststellte, dass ich mich im Becken unter Wasser befand. (Hier die merkwürdige Parallelle zu Deiner Aquariums-Welt, Noa.) Zunächst empfand ich keine Panik, eher Verärgerung, da der Wasserwiderstand meine Dirigierbewegungen erschwerte und überhaupt das Medium Wasser die Kontaktaufnahme mit meinem Chor nahezu unmöglich machte. Wo war überhaupt mein Chor? Hier verdrehte sich allmählich das Traumerlebnis, zumal mich das Gefühl, unter Wasser zu sein, bedrückte und mir das Atmen schwer fiel. Allmählich muss ich wohl aufgewacht sein, ich war nicht mehr unter Wasser, sondern lag mit leichtem Asthma in meinem Bett, und meine nächste Erinnerung ist, dass ich im Halbdämmer über die kostengünstige Konstruktion eines Klein-U-Bootes nachdachte. Um das Dirigieren unter Wasser einfacher und das Stattfinden des Freibadkonzertes doch noch möglich zu machen? In einer Ein-Mann-Unter-Wasser-Kapsel ist man ja geschützt...
Manches muss man nicht verstehen. Aber ich wollte Euch davon erzählen, damit Ihr ein wenig Anteil habt an meiner Gemütsverfassung.
Das Briefeschreiben hilft. Es kennzeichnet, wie das Schreiben selbst, dass man dabei allein ist, und man schreibt, weil diejenigen, denen man etwas sagen will, nicht da sind, nicht leiblich anwesend. Und dennoch hat man das Gefühl, weniger allein zu sein. Aristoteles nennt den Brief die Hälfte eines Dialogs. Was sagt Ihr?
Mit kalten Füßen - Florian
Liebe Kollegen,
Sitze nun also wie verordnet und verabredet in meinem Aquarium und beobachte:
vor mir ein Aquarium, eigentlich kunstvoll gestaltet und - so gut es die beengten Verhältnisse zulassen - verschiedene natürliche
Lebensräume nachbildend.
Das zentrale Biotop ist bevölkert von einem kleinen Schwarm sehr eigenständiger Individuen, die hier aber, anders als in ihrer natürlichen Umgebung, von durchsichtigen Wänden auf Abstand gehalten werden. Innerhalb der jeweiligen Habitate sind unterschiedlich viele Glasbecken mit thematisch gestalteten Landschaften eingerichtet: Es gibt Terrarien mit gesellschaftlich relevanten Diskursen, aquaterrestrische Philosophiebecken, psychedelisch anmutende Tiefsee-Arrangements sowie diverse Sammelbecken, die zwar beschriftet, aber auffallend unbelebt erscheinen. Außerdem je ein Becken, das offenbar als eine Art Auffangbehälter für bestimmte Ausscheidungen dient, die unregelmäßig und in je sehr unterschiedlichem Umfang hier abgelegt werden.
Mit Hilfe eines diffizil abgestimmten Lichtkonzepts sind unregelmäßige gegenseitige visuelle Momentaufnahmen der Schwarm-Individuen untereinander möglich.
Mein eigener Bewegungs- und Beobachtungsradius im Forschungsaquarium ist eingeschränkt durch die Vielzahl an vernetzten Biotopen, die in jeweils eigenen, von einander durch Glaswände getrennten Lebensräumen mit wiederum diversen intergrierten Binnenaquarien angelegt sind.
Soviel nur vorweg.
Beobachungsprotokolle folgen.
Hoffe, Ihr seid auf dem Weg.
Noa
Ein halbes Leben in Quarantäne:
Das Schicksal von "Typhus-Mary"
Als der Hygieniker George Soper im März 1907 der Erregerquelle, der er über Monate wie ein Detektiv gefolgt war, endlich gegenüberstand, zückte die Quelle eine Tranchiergabel. Mary Mallon war nicht gewillt, dem Fremden Proben ihres Urins, Stuhls und Bluts zu überlassen. Doch als klar war, dass es vermutlich sie, die Köchin, war, die den damals als unheilbar eingestuften Typhus-Erreger an Gäste und Personal weitergegeben hatte, waren ihre Persönlichkeitsrechte nicht mehr viel wert.
Fünf Polizisten und eine Ärztin rückten an, Mallon wurde in ein New Yorker Krankenhaus gebracht. Die Tests waren eindeutig: Die Patientin zeigte zwar keinerlei Symptome der Erkrankung, trug aber Salmonella Typhi, den Typhuserreger, in sich. Sie wurde als Dauerausscheiderin eingestuft. Über verunreinigte Lebensmittel und Wasser wanderten Typhusbakterien aus ihrer Küche in die Straßen von New York und richtet dort Fatales an.Vier Monate lang war Scoper den Spuren Mallons gefolgt, bevor er die damals 37-Jährige fand. Sie sollte sein großer Durchbruch sein: Scoper gilt als der erste Fachmann, der eine Dauerausscheiderin in den USA Identifiziert hatte. Acht Familien hatte er gefunden, bei denen Mallon als Köchin tätig war, in sieben von ihnen grassierte Typhus – mehr als zwanzig Menschen waren erkrankt, ein Kind gestorben.
Als die Tests belegten, was Scoper vermutete, wurde die erste identifizierte Dauerausscheiderin Amerikas in einem kleinen Häuschen des Riverside-Krankenhauses isoliert. Die Situation Anfang des 20. Jahrhundert ist ernst in New York, eine sichere Behandlungsmethode haben die Mediziner zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Sie schätzen aber, dass etwa drei Prozent aller Typhus-Erkrankten wie Mallon zu „stillen Trägern“ werden – sie zeigen wenige bis keine Symptome, verbreiten die Erreger jedoch, Dritte infizieren sich und erkranken.
So wurde Mallon zur Sensation, die Presse sprach von „Typhus-Mary“, in einem Brief an ihren Anwalt klagte sie darüber, sie werde als Anschauungsmaterial für Mediziner behandelt. Mit seiner Hilfe ging sie gegen die erzwungenen Quarantänemaßnahmen vor. 1909 verklagte sie die New Yorker Gesundheitsbehörde, ihr Fall landete vor dem Obersten Gerichtshof und löste eine Grundsatzdebatte aus: Wie weit dürfen die staatlichen Autoritäten gehen, um ihre Verantwortung in einer Gesundheitskrise wahrzunehmen? Welches Gut wiegt höher? Das individuelle Recht auf Selbstbestimmung oder das gesundheitliche Wohl der Gesellschaft?
Mallon blieb in Quarantäne. Die Richter wiesen den Vorwurf von Mallons Anwalt zurück, der Staat habe sie ohne Anklage eingesperrt und legitimierten das Handeln der Gesundheitsbehörden – diese hätten in erster Linie die Gesellschaft gegen die Ausbreitung des Typhus zu schützen.
1910 erlangte Mallon trotzdem ihre Freiheit wieder, der neue Leiter der Gesundheitsbehörde entlässt sie, obwohl verschiedene Behandlungsmethoden keine Wirkung gezeigt hatten und in Mallons Proben weiterhin Typhus-Erreger gefunden wurden. Allerdings galten Auflagen: Nie wieder sollte sie als Köchin arbeiten oder beruflich mit Lebensmitteln zu tun haben.
So wirft der Fall Mallon die zweite Frage auf, die für staatliche Maßnahmen gegen Epidemien bis heute eine enorme Bedeutung hat: Wenn der Staat einschneidende Zwangsmaßnahmen vornimmt - in welchem Umfang muss er dafür sorgen, dass der entstandene, persönliche Schaden ausgeglichen wird?
Als Mallon den Hygieniker Scoper in ihrer Küche mit einem Tranchiermesser drohte, um keine Proben abgeben zu müssen, war sie 37 Jahre alt. Sie hatte keinen Mann, keine Familie, sorgte für sich selbst. Geboren wurde sie in Nordirland, mit 14 wanderte sie aus in die USA, landete später in den Küchen New Yorks und New Jerseys. Bevor sie das erste Mal isoliert wurde, lebte Mallon von der Hand in den Mund, hatte keine feste, eigene Wohnung. Sie sei nachts oft bei einem „unehrenhaften Mann“ untergekommen, ließ Scoper die Öffentlichkeit wissen.
Heute gehen Wissenschaftler davon aus, dass Mallon sich nie der Tragweite ihrer Infektion bewusst war. Denn sie litt nicht unter den Erregern. Eine Operation, die die Bakterien ausschalten sollte – die Entfernung der Gallenblase –, lehnte sie ab. Die freiheitsraubenden Maßnahmen der Mediziner hatten ihr jegliches Vertrauen genommen. Die Ärzte waren für sie von Heilsbringern zur Bedrohung geworden.
So waren es wohl die eigene Not, gepaart mit Unwissenheit und mangelndem Vertrauen, die Mallon zu ihren nächsten Schritten trieben: Kaum war sie auf freiem Fuß, heuerte sie als Köchin an. Sie arbeitete in Hotels, Restaurants, einer Pension.
Als 1915 ein Ausbruch 25 Menschen erkranken ließ, war das New Yorker Gesundheitsamt ihr erneut auf den Fersen. Dass sie jetzt als Mrs. Brown kochte, half Mallon nicht: Sie wurde zurückgeschickt auf North Brother Island, in die Baracke des Riverside-Krankenhauses – in dauerhafte Isolation.
Kontakt hatte sie nur zu anderen Erkrankten und dem Pflegepersonal. 1938 starb Mary Mallon in den Pflegeräumen auf der Northern Island - nahe der Bronx, weit weg von ihrem Zuhause Nordirland, wo 69 Jahre zuvor ihr Leben begonnen hatte. 26 Jahre dieses Lebens verbrachte Mary Mallon in Isolation – um zu verhindern, dass sich eine Krankheit ausbreitet, unter der sie nie selbst gelitten hatte.
(aus: GEO. Autor: Matthias Thome)
Wie geht’s uns denn heute?
Unbefriedigend:
Die Gehirne wollen sich nicht synchronosieren.
Zusammenarbeiten:
ungeschützes Reden
alles auf einen Haufen werfen (Hauptsache raus damit)
Diskussion (auch hitzig)
Temperatur
Peinlichkeit aushalten (sieht ja keine*r außer uns)
ein gemeinsamer Atem
oder Atemlosigkeit
Synchronizität:
Ein Gewitter zeitlich korrelierender Ereignisse, die nicht über eine Kausalbeziehung verknüpft sind, jedoch als miteinander verbunden, aufeinander bezogen wahrgenommen und gedeutet werden.
Ein Biotop.
Ist Asynchronizität überhaupt ein Wort?
Augustin
Es trug sich zu, dass in Wien während der Pestzeit Anno 1677 ein gewisser Markus Augustin in den Wirtshäusern Musik machte. Da man ihn mit Geld nicht entlohnen konnte, gab man ihm Wein, dem er weidlich zusprach. Volltrunken verließ er das Gasthaus, legte sich auf der Straße nieder und schlief ein.
Die Seuchenknechte schafften ihn auf ihre Karre und fuhren den vorgeblichen Leichnam zur Siechgrube vor der Stadt.
Als sich Augustin, von seinem Rausch erholt, inmitten faulender menschlicher Kadaver wiederfand, versuchte er erfolglos, den steilen Wänden der Leichengrube zu entkommen. Schließlich nahm er seinen Dudelsack, dem man ihm glücklicherweise mit ins Grab gegeben hatte, und blies.
Keiner weiß genau wer, aber einer hat ihn gehört und zog ihn heraus.
Und Augustin dichtete ein Lied über sich selbst:
„Nach der Krise ist vor der Krise.“
Gedanken, Gefundenes, Notizen etc. eines optimistischen Kulturpessimisten
oder
Wie sieht Theater in der Zukunft aus?
Notiz 1: Serendipity – die zufällige Beobachtung von Sachverhalten oder Prozessen, die nicht gezielt gesucht und nicht vermutet werden, die sich aber als überraschend nützlich erweisen.
Nur damit wir uns nicht missverstehen – das hier Zusammengetragene hat keinerlei Anspruch auf Folgerichtigkeit, Vollständigkeit von Fakten und Gegebenheiten, vieles mag in das Reich von Pauschalisierung und „gefährlichem“ Halbwissen fallen und soll trotzdem zu dem Ziel führen, ein Produkt zu kreieren, das in Krisenzeiten ( und Covid-19 ist ja erst ein Trainingsspiel) plausibel scheint.
Es wird zwischen Notizen, Kommentaren, Zitaten, Listen, Erfundenem hin- und herspringen. Dieses Vorgehen mag daher geschuldet sein, daß es auch immer Reaktion auf die Arbeit der Kollegen ist und auf die Zeit, die sich augenscheinlich nur vorwärts bewegt und immer wieder „Neues“ offenbart.
Zitat 1: Wer nicht von dreitausend Jahren
sich weiß Rechenschaft zu geben,
bleibt im Dunkeln unerfahren,
mag von Tag zu Tage leben.
Goethe
Bühnenbild 1:
Während ich über den Beginn des Stückes nachdenke, das ich schreiben möchte, kommen mir Zweifel, ob ich überhaupt einer größeren Öffentlichkeit teilhaben lassen will an dessen Entwicklung. Vor Corona blieb die Arbeit in der Regel im Kollektiv bis sie dann zur Premiere gebracht wurde. Und jetzt nutzen wir Plattformen, die nicht unbedingt auf Diskretion setzen...
… aber sei´s drum, ich gebe unserem Komponisten die erste Liste, damit er vielleicht etwas schönes daraus macht.
Liste 1:
Infektionskrankheiten
A
B
C
D
E
F
G
H
I
K
L
M
N
O
P
Q
R
S
T
Ü
V
-
Variante Creutzfeldt-Jakob-Krankheit, Creutzfeldt-Jakob-Krankheit
-
Verotoxin-prozierende E. coli (VTEC, EHEC, STEC) / Hämolytisch-urämisches Syndrom (HUS)
W
Y
Z
Da fällt mir ein, daß ich noch eine Liste mit sogenannten historischen Krankheiten habe. Die wird ihn vermutlich mehr interessieren...
Liste 2:
Zitat 2: Die Saurier mußten nach sechzig Millionen Jahren Herrschaft abtreten, die zwei Millionen Jahre, die seit dem ersten Auftreten unserer Gattung vergangen sind, reichen möglicherweise schon. Ein kurzes Intermezzo, nicht einmal das: wir sprachen auf der Welt vor und fielen durch.
Doch wohin wir auch treiben, an ein Ufer, das uns rettet, oder dem Kata- rakt zu, der uns zerschmettert, so oder so, nach dem Ablauf aller Geschichte, dem natürlichen oder dem unnatürlichen, der Mensch wird etwas Einmaliges, Ungeheures und Wunderbares gewesen sein.
Dürrenmatt
Wie weit müssen wir zurückreisen, um eine Ahnung davon zu bekommen, warum wir jetzt in dieser Krisensituation sind?
Ist es nur die logische Konsequenz unseres Verhaltens?
Welche Strategien der Hoffnung gab es in früheren Zeiten?
Was können wir mitnehmen von dieser Reise in die Vergangenheit/Zukunft?
Was können und wollen wir davon auf der Bühne erzählen?
Müssen wir ein Versprechen ablegen, daß wir unser Stück alle zehn Jahre spielen werden, wenn Patientin 0 diese Krise überstehen sollte?
Und von wem sollten wir die letzten fünf Tage nacherzählen?
Geht es überhaupt um Einzelpersonen?
Notiz 2: Im Pestjahr 1633 fielen 80 Einwohner von Oberammergau der Seuche zum Opfer. Daraufhin gelobten die Oberammergauer feierlich, regelmäßig ein
Passionsspiel aufzuführen, wenn sie von der Pest befreit würden.[3] ... Von diesem Tag an ist kein Pesttoter mehr verzeichnet. In einer mehrere Stunden dauernden Aufführung stellen die Dorfbewohner Oberammergaus die letzten fünf Tage im Leben Jesu nach. Erstmals wurde das Passions- spiel 1634 als Einlösung eines Versprechens nach der überstandenen Pest aufgeführt.
https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Oberammergauer_Passionsspiele&oldid=200553393
Wir befinden uns momentan in einem Zustand der Daueranalyse. Überall liest und hört man, dass das Coronavirus wie ein Brennglas wirke, welches Missstände und Ungleichheiten, die es bereits vor Covid-19 gab, verstärke und zugleich Abhängigkeiten aufdecke, die vorher so noch nicht gesehen wurden. Wie z.B. der Beruf der KassiererInnen, welcher in Pandemiezeiten als systemrelevant angesehen wird.
Die deutsche Soziologin Christine Wimbauer sieht das in einem Interview mit ZDFheute so: (Ausschnitt)
ZDFheute: Darüber haben sie geforscht und bereits vor der Krise intensiv mit Menschen gesprochen, die in prekären Jobs arbeiten. Was haben Sie festgestellt?
Wimbauer: Viele waren wütend und verärgert, weil sie keine Anerkennung erfahren. Ob von Gesellschaft, Politik oder Arbeitgeber: Sie hatten das Gefühl, dass ihre Arbeit als selbstverständlich wahrgenommen wird, obwohl ihr Einsatz weit über den von "normalen" Beschäftigungsverhältnissen hinausgeht. Fast alle Befragten haben über gesundheitliche Probleme geklagt. Ihre Jobs sind meistens psychisch belastend, körperlich anstrengend und finden unter hohem Druck statt.
ZDFheute: In der Krise kam dann die Anerkennung. Kassiererinnen und Pfleger wurden bejubelt, die Kanzlerin erwähnte sie sogar einer Fernsehansprache. Hilft das?
Wimbauer: Sagen wir mal so: Das ist ein erster Schritt, aber natürlich reicht das nicht. Diese symbolische Anerkennung wird zynisch, wenn weitere Schritte ausbleiben. Es braucht also auch eine bessere Bezahlung und bessere Arbeitsbedingungen.
ZDFheute: Viele sprechen davon, dass die Krise eine Chance sein kann, um solche Ziele durchzusetzen. Gleichzeitig sehen sich Menschen in prekären Situationen noch mehr Herausforderungen ausgesetzt als sonst schon. Was überwiegt nun: Möglichkeiten oder Gefahr?
Wimbauer: Ich bin skeptisch, dass sich etwas verändert, weil ich glaube, dass die Gesellschaft eher ein Kurzzeitgedächtnis hat. Ich kann mir vorstellen, dass wir schnell wieder den Zustand von vor der Krise erreichen, wo diese prekären Arbeitsverhältnisse zwar bekannt waren, man aber nichts dagegen getan hat. Man muss also schauen, dass sich diese Missstände mindestens in das Mittel- oder Langzeitgedächtnis der Gesellschaft einbrennen.
ZDFheute: Wie kann das gelingen?
Wimbauer: Da spielt eine öffentliche Sichtbarkeit dieser Branchen und Menschen eine ganz wichtige Rolle. Es braucht mehr Medienpräsenz, aber auch bessere Personalvertretungen und stärkere Lobbygruppen. Und wichtig ist natürlich, dass wir die Erkenntnis und das Wissen, dass diese Menschen in systemrelevanten Tätigkeiten arbeiten, nicht versacken lassen und unsere gesellschaftliche Anerkennung aufrecht erhalten.
Quelle: https://www.zdf.de/nachrichten/wirtschaft/coronavirus-arbeitsbedingungen-missstaende-100.html
Stichwort: Systemrelevanz
https://de.wikipedia.org/wiki/Systemrelevanz
Die ganze Kultur- und Veranstaltungsbranche bekommt gerade zu spüren nicht auf der Liste der systemrelevanten Berufe zu stehen....
Dabei...
Zitat 3:
"(. . .) Kultur kostet Geld. Sie kostet Geld vor allem auch deshalb, weil der Zugang zu ihr nicht in erster Linie durch einen privat gefüllten Geldbeutel bestimmt sein darf. Vor ein paar Jahren, eben hier in Berlin, habe ich bei einer Ansprache vor dem Deutschen Bühnenverein ausgeführt, dass Kultur nicht etwas sein darf, was die öffentlichen Hände nach Belieben betreiben oder auch lassen dürfen. Substanziell hat die Förderung von Kulturellem nicht weniger eine Pflichtaufgabe der öffentlichen Haushalte zu sein als zum Beispiel der Straßenbau, die öffentliche Sicherheit oder die Finanzierung der Gehälter im öffentlichen Dienst. Es ist grotesk, dass wir Ausgaben im kulturellen Bereich zumeist "Subventionen" nennen, während kein Mensch auf die Idee käme, die Ausgaben für ein Bahnhofsgebäude oder einen Spielplatz als Subventionen zu bezeichnen. Der Ausdruck lenkt uns in die falsche Richtung. Denn Kultur ist kein Luxus, den wir uns leisten oder auch streichen können, sondern der geistige Boden, der unsere eigentliche innere Überlebensfähigkeit sichert."
Richard von Weizäcker 1991
Wie können wir es schaffen, „dass sich diese Missstände mindestens in das Mittel- oder Langzeitgedächtnis der Gesellschaft einbrennen.“?
Bei einer Nation, die Dieter Bohlens Bücher auf die Bestsellerlisten hebt, stelle ich mir das als ein schwieriges Unterfangen vor.
Aufjedenfall gehört unter anderem das Theater zu den Möglichkeiten.
SAVE THE DATE!
Am 25. August 2020
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Genesius von Rom
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