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Patientin null

 Strategien der Hoffnung 

Ergebnisse:

Traktat No. 1

1. Der Umzug unserer Kunst in den virtuellen Raum ist für uns keine Option. Wir brauchen und wollen die Unmittelbarkeit. Unmittelbarkeit konservieren zu wollen, ist ein Widerspruch in sich.

2. Wenn wir das Ergebnis unserer Arbeit nicht konservieren können und wollen, so können wir doch den Prozess, der dahin führt, konservieren. In der ersten Phase ist dies ein Austausch von und Auseinandersetzung mit Ideen, Gedanken, Rechercheergebnissen, literarischen und anderen Fundstücken. Eine Reihe intensiver konstruktiver ergebnisoffener Gespräche: Am Anfang ist das Wort.

Wir wollen die Vision konservieren. Im Wort bleibt sie uns lebendig - und damit verfügbar für eine Zeit, in der wir wieder unseren Raum betreten können. Wir schreiben ein Buch: das Buch zur Vision, das Buch zum Stück, das sein könnte.

Wir befreien uns aus der unseligen Situation des Ideenschwanger-Visionsgesättigt-Des-Redens-Müde-Seins. Es wird ein Ergebnis geben, eine künstlerische Geburt, ein gemeinsames Geschöpf. Ein Buch.

Wir recherchieren, phantasieren, konzipieren ein Bühnenprojekt: Homo post pandemic. Wir fragen:

Was passiert uns – als Menschen, als Gesellschaft - auf dem Weg in die immer konsequentere Kontaktvermeidung?

In der Physik gibt es verschiedene Modelle, wie das Ende des Universums vorstellbar wäre:

- der Big Freeze, wenn am Ende der Ausdehnung des Alls nichts mehr mit irgendetwas in Beziehung ist und alles still steht - ein zugleich physikalisch wie soziologisch apokalyptischer Entwurf von einer Welt, in der sich alle Energie verloren hat, wo sich alle Teilchen, ebenso alle Gedanken, Gefühle, Absichten, so weit voneinander entfernt und isoliert haben, dass kein schöpferischer Stoffwechsel mehr stattfinden kann.

- der Big Crunch, wenn alle Materie im All sich in einer plötzlichen Gegenbewegung zur derzeitigen Expansion auf einen Nullpunkt zusammenziehen wird: Das Zusammenfallen allen Seins ins Nichts. Auch furchtbar, auch tödlich.

- oder der Big Rip, das Große Zerreißen, wenn die hypothetische Dunkle Energie mit zunehmender Ausdehnung des Alls das Auseinanderdriften derartig verstärkt, dass das Universum in immer kleinere und schließlich kleinste Teile zerreißt.

Jedes dieser Szenarien erscheint in der aktuellen weltweiten Situation wie eine düstere, schmerzhaft hellsichtige Prophezeiung. Das Ende des Universums also als Allegorie.

Wir fragen uns nach eigenen und den Erfahrungen Anderer, die den drohenden Verlust persönlicher Beziehungen, mit Hilfe digitaler Medien, zu kompensieren versuchen.

Was wird der Homo ipsae simpliciter, der Mensch ohne Beziehungen sein?

Der Homo post pandemic: ein postpandemischer Kaspar Hauser?

Wir schreiben Briefe. Wir schreiben ein Buch.

Das Wort ist ein Anfang.

Begleiten Sie uns!

CnOoRrOmNaAl

184 TAGE ONLINE

 

Vor 125 Tagen, am 26. Februar 2020 teilte Bundesgesundheitsminister Spahn mit, Deutschland stehe „am Beginn einer Coronavirus-Epidemie“.

Seitdem ist nichts mehr, wie es war.

Je surrealer unsere konkreten Lebensumstände werden, je mehr wir uns bemühen, ungewohnte Verhaltensweisen in Gewohnheiten zu überführen, umso unfassbarer wird diese Wirklichkeit. Die Hoffnung auf eine Rückkehr in die Welt vor Corona - die wir jetzt „Normalität“ nennen - konkurriert mit der Ahnung, dass wir uns in einer für immer veränderten Welt einrichten müssen - die wir „neue Normalität“ nennen.

Dies ist unser Versuch, als Theatermacher*innen gemeinsam mit und in unserer Kunst zu überleben - jenseits jeder Normalität.

 

Kontext:

>>reload: ein Stipendium der Kulturstiftung des Bundes

 

Content:

Wir öffnen die Türen zu unseren Arbeitszimmern und unsere Schreibtischschubladen.Wir teilen unsere Bildschirme, unsere Ideen und Irrtümer, unsere Versuche und Fehlschläge,unsere Wege und Entscheidungen hin zu einem ästhetisch geformten Ergebnis.

 

Phase 1: Recherche

Fokus: Theater- und Kunstgeschichte – Kulturgeschichte der Seuchen und Pandemien – Dimensionen der Wirklichkeit: Universum Mensch vs.Weltmacht Virus – die Oberammergauer Passionsspiele.Wir schauen in jede Ecke, unter jedes Sofa und ziehen heraus, was wir dort entdecken. Unsere Fundstücke werfen wir auf einen Haufen in der Zimmermitte.

>> unser Blog

 

Phase 2: Sondierung

Wir schauen uns unseren Haufen an, sortieren aus und um und versuchen zu verstehen, worum es geht. Wir geben den Fundstücken Namen

>> unsere Pinnwand

 

Phase 3: Inszenierung

 

BEGLEITEN SIE UNS!

Videozwiebel
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Liebe Noa und lieber Oli,

 

ich hatte wirklich die allerbesten Vorsätze und auch schon den Beginn des nächsten Briefes deutlich vor Augen: „Leute, ich weiß, wie 's geht! Folgendermaßen: ...“

Aber – leider – nein –

Man könnte denken: Der hat doch nichts zu tun, der Künstler, da soll er sich mal hinsetzen und sich Gedanken machen. Ein Stück schreiben, ein neues Lied singen oder wenigstens eine hübsche Puppe basteln. Einfach so. Weil er 's doch kann! Und dann hat er was, wenn die Zeit um ist.

Ja. Jaja. Hab ich ja. Das geht eine Zeit lang. Sogar gut. Da liegt mittlerweile einiges auf dem Haufen. Und was unsere gemeinsamen Vorhaben betrifft, habt Ihr genau so dazugeschaufelt. Ich bin froh, dass wir so viele verschiedene Themen, Ansätze, Materialien haben. Das reicht für fünf Stücke.

Aber irgendwann muss es konkret werden. Ich brauche eine Disposition und einen Termin. Sonst läuft mein Akku leer und leer und wieder leer, und lässt sich irgendwann nicht mehr richtig laden.

Schlimm für einen Kulturschaffenden ist, wenn die Lust, kreativ zu werden, versiegt. Spätestens dann ist der Punkt erreicht, wo er sich wirklich Gedanken um eine Neuorientierung machen sollte.

 

Zur Zeit wird man immer nachdrücklicher dazu aufgefordert, daheim zu bleiben.

In meinem Singlehaushalt komme ich mir mitunter vor wie der Letzte Mensch und suche täglich nach einem Vorwand, hinauszugehen, um mich davon zu überzeugen, dass das nicht stimmt. Ich setze mich aufs Fahrrad, gehe, husch, husch, mal schnell zum Supermarkt, wechsele ein paar Worte mit der Person an der Kasse, oder, was mir gerade am meisten wohl tut, mache ausgiebige Spaziergänge – und sehe von fern: Da sind noch Andere.

Komme ich nach Hause, umfängt mich aber wieder dieses dumpfe Gefühl, und ich stelle mir die Frage: Käme der Letzte Mensch auf die Idee, Theaterschaffender zu werden?

Wohl kaum.

Ich glaube, dass der Ursprung der Kunst in der Kommunikation liegt, in der Auseinandersetzung und der Verständigung. In dem, was Menschen mit Menschen erleben.

Das bedeutet umgekehrt, dass man nur mit neuen, frischen Erlebnissen einer drohenden schöpferischen Ebbe begegnen kann. Nur so funktioniert der Stoffwechsel der Phantasie.

 

Also versuche ich es mal mit einem schmalen Erlebnis von vorgestern:

 

> Ich gehe spazieren. Die Gegend ist mir unbekannt. Schlechte Sicht, kein Horizont zu sehen. Es liegt ein wenig Schnee. Der Weg ist matschig.

Ich komme an einem einsamen kleinen Haus ohne Dach vorbei. Der Schornstein ragt nackt aus den Mauern, sieht mit dem breiten Kaminkopf aus wie ein riesiges Shillum, als hätte sich das Häuschen selbst zur Ruine gekifft. Was war das früher? Ein Schrebergarten abseits der Kolonie? Ich betrachte durch den Zaun den verwilderten Garten und die verschmierten Graffiti auf den Mauerresten.

  • Ganz schon bunt, was? sagt eine Frau hinter mir.

  • Wissen Sie, was das war?

  • Ich kenne es nur verlassen. Früher hatte ich mal daran gedacht, das Grundstück zu übernehmen. Aber so, ohne Wasseranschluss und ohne Strom...

Die Frau geht weiter, ich rufe ihr hinterher:

  • Ich war hier noch nie. Kenne mich nicht aus. Kommt man da oben nach links weiter?

  • Sie gehen wohl auch lieber einen Rundweg, anstatt die selbe Strecke wieder zurück zu laufen?

  • Ja. Auf jeden Fall.

  • Ich war längere Zeit nicht mehr hier, aber ja: ich glaube, es gibt da oben am Wald einen Weg links runter.

Ich stapfe weiter. Auf ihre Empfehlung hin nehme ich einen undeutlichen Pfad am Waldrand links und wäre beinahe ausgerutscht.

  • Unten geht es besser voran! ruft sie aus der Ferne.

Nebel, verschwommene Sicht. Ich vertraue der Stimme und komme wohlbehalten zurück ins Tal.

Und nehme mir vor, das Häuschen noch mal zu besuchen, wenn es etwas wärmer, weniger ungemütlich und die Luft klarer ist.

Ich versichere: Der Abstand zwischen mir und der Frau hat drei Meter fünfzig nie unterschritten. <

 

Lohnt es sich, das zu erzählen?

Es kommt wohl darauf an. Wäre ich tatsächlich der Letzte Mensch, wäre die Geschichte eine Sensation. Oder das klare Anzeichen, dass ich den Verstand verliere.

 

Wieder bin ich an der Stelle, wo ich nicht weiter weiß. Wir wechseln unsere Briefe in der Hoffnung, dass diese 'pandemic memories' uns genügen und weiter bringen. Von Tag zu Tag. Mal sehen.

Für eine Wanderung mag im Kreis zu laufen unterhaltsamer sein, als den selben Weg hin und wieder zurück zu gehen; in beiden Fällen kommt man aber wieder zum selben Punkt...

 

Es kostet viel Mühe, sich nicht frustrieren zu lassen.

Bis bald, Ihr Lieben. Heute morgen war ich im Supermarkt, also koche ich mir jetzt was Leckeres. Um meine Laune zu heben und um zu überprüfen, ob mein Geschmackssinn noch funktioniert. Man weiß ja nie.

 

Euer Florian

Liebe Kollegen,

 

 

nur kurz:

ich schreibe Euch, weil ich letzte Woche Patientin Null besuchen durfte. Ich hatte mich sehr bemüht einen Termin zu bekommen, da ja jetzt der „harte“ Lockdown in Kraft treten wird und Besuche noch unmöglicher werden und ich mich (und Ihr wahrscheinlich auch) sehr um sie sorge.

Quasi eingewickelt in diversen Schutzmonturen durfte ich die Intensivstation betreten und mich einige Minuten mit ihr unterhalten. Trotz Beatmungsgerät, Herz- Lungenmaschine, Kanülen und Schläuchen machte sie nicht den Eindruck als ob sie aufgeben wolle. 

Im Gegenteil, sie war hocherfreut über meinen Besuch und erzählte mir, dass sie unseren Briefwechsel, den sie ja auf unserer Webseite lesen kann, mit großem Interesse verfolgt.

Und sie gab mir zu verstehen, dass es in der momentanen Situation der richtige Weg von uns ist, nicht auf den digitalen-online-streaming Zug zu springen. Und wie um ihre Einschätzung zu bekräftigen, gab sie mir ein Buch und sagte: “Vielleicht hilft es euch ja am Ball zu bleiben und mich und euch, den anderen da draußen, plausibel zu machen...ich schenke es dir, mir gefiel es ganz gut.“

Ich bedankte mich, schlug eine beliebige Seite auf und las: “Dass Fast-Sterben und dann Überlebthaben ist das Stärkste, was wir spüren können“, hat  ein anderer Grenzgänger zwischen der menschlichen und der nichtmenschlichen Welt gesagt.“ McCandless schrieb in sein Tagebuch in Alaska: Ich bin wiedergeboren. Dies ist meine Morgendämmerung. Das wirkliche Leben hat gerade erst begonnen. Achtsam leben: Bewusste Aufmerksamkeit auf das Elementare des Lebens und eine bewusste Aufmerksamkeit auf deine unmittelbare Umgebung und daß, was sie angeht, Beispiel: eine Arbeit, eine Aufgabe, ein Buch; was auch immer, es beansprucht die ganze Konzentration ( die Umstände haben keine Bedeutung. Es geht darum, wie man sich selbst in einer Situation so verhält, dass sie wertvoll wird. Alle wahre Bedeutung liegt in der persönlichen Be-

ziehung zu einem Phänomen, was es für dich bedeutet).

Aus: Michael Hampe – Die Wildnis Die Seele Das Nichts, Über das wirkliche Leben / Hanser Verlag 2020, S. 51,52

 

Mein Interesse war geweckt und im Hinausgehen versprach ich ihr, daß wir nicht aufgeben werden

und wir versuchen werden sie so schnell wie möglich wieder auf die Beine zu kriegen.

Nun lese ich immer wieder in diesem Buch ( sehr empfehlenswert ) und ärgere mich immer wieder, dass es in dieser unplanbaren Zeit immer wieder genügend zu planen gibt.....

…. Das Planen der Planlosigkeit ....

 

 

Gehabt Euch wohl und bis bald

 

Oli

Liebe Noa, lieber Oli,

 

nachdem ihr treu Eure Briefe rechtzeitig vor dem nächsten Videotreffen verfasst und verschickt hattet, blieb ich den meinen schuldig. Jetzt hole ich nach, was ich schon längst hätte schreiben können. Oder nicht? Meine Ausrede war, dass mir der Bezug zu einem größeren Zusammenhang zu fehlen schien, ich diesen übergeordneten Gedanken noch nicht formulieren konnte.

Jetzt, nach unserem Treffen am Bildschirm, weiß ich, dass ich den Zusammenhang eigentlich kenne – oder schon kannte? – , aber ich fand eine weitere Ausflucht: Ich habe es ganz einfach verschlafen. Tja, blöd. Die Zeit eilt dahin, und ich merke es nicht mehr. Auch Ihr beschreibt ja für Euch die für Feiertage und Ferien typische Bezugslosigkeit von Datum und Wochentag, die zeitliche Desorientierung.

Aber so geht und ging es mir schon über die vergangenen Wochen. Maßstabverlust. Es fällt mir zunehmend schwer, mein subjektives Zeitempfinden mit Uhr und Kalender zu synchronisieren.

Wir hatten uns vor zwei Jahren in unserem Weltraumstück in eine Kapsel versetzt, die mit ungeheurer Geschwindigkeit durchs All jagte; der Blick aus dem Fenster gab uns dazu aber kein Verhältnis; wir standen rasend auf der Stelle.

Das war damals Imagination – heute erlebe ich es real; zwar anders, dennoch sehr eindrücklich. Die gegenwärtigen Bedingungen deformieren mein Zeitgefühl, heute ist gestern und die Zukunft eine Konstruktion.

 

Und was ist die Zukunft? Was passiert nach der Pandemie? Die Vorstellung, dass das Leben wieder aufgenommen wird, wie es war anno 2019, quasi als 'status quo ante bellum', ist – das schriebst Du schon, Noa – absurd. Abseits der unwiderruflich veränderten politischen und ökonomischen Bedingungen steht die Frage, wie wir, wir Menschen, uns postpandemisch unumkehrbar verändert haben. Was wird allein diese wenigstens ein Jahr dauernde Zeit hauptsächlich indirekter Kommunikation mit oder aus uns gemacht haben?

 

Über den Erwerb neuer (technischer, ausgelagerter) Sinnesorgane bzw. das Gewöhnen an dieselben schrieb ich schon im vergangenen Brief. Das Erlebnis einer meiner besten Freundinnen beschreibt die Gewöhnung als Anekdote.

Die Geschichte sei gleich nacherzählt, zuvor aber zur Information: Meine Freundin arbeitet als Hochschullehrerin, und ihr tägliches Geschäft in den vergangenen Monaten war, Videokonferenzen einzuberufen und sie sowohl inhaltlich als auch technisch zu moderieren; vor allem die unterschiedlichen Lautstärken der Teilnehmer*innen galt es zu regeln, und so war es ihr in Fleisch und Blut übergegangen, zu laute Beiträge herunter- und allzu leise hochzupegeln. Was man am Mischpult eben so macht; nichts Ungewöhnliches in diesen Zeiten.

Nun denn. Folgendes trug sich zu: Meine Freundin fuhr mit ihrem Sohn im Auto. Sie hatten sich lange nicht (leibhaftig) gesehen, und es gab viel zu berichten. Der Motor dröhnte, der Sohn erzählte.

Meine Freundin verstand nicht immer alles und ertappte sich dabei, wie ihre Hand unwillkürlich zum Lautstärkeregler des Autoradios huschte ...

Interessante Fehlleistung: 'Ich dreh mal meinen Sohn lauter.' Wäre ihr das vor Corona passiert?

Noch interessanter: Offensichtlich verwechseln und vertauschen wir jetzt in beide Richtungen; war uns nach unseren Forschungen zu 'Ich binär' die Gefahr deutlich geworden, dass die virtuelle Welt Ersatz für die reale werden könnte, sind wir jetzt so weit, dass wir das seltene Erlebnis der leibhaftigen Begegnung mit der Bildschirmwelt der Videokonferenzen verwechseln.

Und wieder, scheint mir, dreht Corona nur an der Kurbel und beschleunigt, was vorher schon im Gange war.

 

Noch ein kürzliches Erlebnis. Ich spare mir jede Vorerzählung, hoffe, dass verständlich wird, um was es mir geht und schneide direkt hinein:

Wir saßen im Warmen, die dritte Flasche Wein ging auch schon zur Neige, und die Zunge war dem Herzen noch näher gekommen. Wieder kommt das Gespräch zurück zum Unvermeidlichen:

 

„Bäh! Corona, Corona. Es geht mir auf den Sack! Ich schaue auch keine Nachrichten mehr. Es ist immer dasselbe, und es gibt nur noch ein Thema. Keine Lust mehr. Und wenn man auf den Karten schaut, wo die Hotspots sind, weiß man doch, wer da wohnt: die rumänischen Großfamilien und so, die sich immer alle gegenseitig umarmen...“

 

Da wäre noch mehr Unverblümtes zu Tage gekommen, aber es wurde rechtzeitig eingeschritten.

Später fragte ich nach, wie dieser Auswurf zu erklären sei und erfuhr, dass an die Stelle der unbeliebten Nachrichten der Austausch am WhatsApp-Stammtisch getreten war; wo man sich in aller Verkürzung die Meldungen selber basteln kann; und das Ergebnis sind umarmende Rumänen als Virus-Spreader. Gefahr erkannt, ...

Auch so was ist nichts Neues. Auch das ein weiteres Beispiel, wie uns nicht-leibhaftige Begegnungen verändern.

 

Und was ist jetzt der übergeordnete Gedanke?

Es ist schon so nah! Es erschreckt mich, was da mit mir und mit Menschen in meinem nächsten Umfeld passiert, sei es im Kleinen, sei es die alltägliche Desorientierung betreffend oder die Tendenz zu bedenklichen Ansichten. Nicht das Virus, etwas anderes rückt mir auf die Pelle, vor dem ich allmählich Angst entwickle. Es ist ein Gefühl – keine konkreten Beweise, aber die Indizien mehren sich.

Ich habe noch keinen Begriff dafür. Ein Horrorklischee? Spielt unser nächstes Stück in der Geisterbahn?

 

Uuahahahaah...

 

So weit. Ich bitte abermals, meine Verspätung zu entschuldigen.

Wir sehen uns bald; bis dahin alle guten Wünsche und seid herzlich gegrüßt –

 

Euer Florian

Lieber Oli, lieber Florian,

als ich Deinen letzten Brief las, Oli, dachte ich auf der Hälfte der Strecke, dass Du gerade in ganz andere Denkgebiete gehst als ich. Am Ende aber trifft sich, wie so oft, doch etwas:

(…) und da glaubt der Mensch, er hätte eine Vorstellung von Zeit.

 

Mich verfolgt in den letzten Tagen immer wieder der Gedanke: „Woran würden wir es merken?“

Und diverse „Letzter Mensch auf der Erde“-Fantasien kommen mir in den Kopf. - Keine Sorge, dies wird kein Rückfall in den unsäglichen Mary-Shelley-Erguss!

Der Gedanke, der mich beschäftigt, ist eben die Zeit in diesem Zusammenhang.

Wir sind – oft auch gemeinsam – an so vielen Endzeit-Geschichten vorbeigekommen: Großes Solo für Anton, Barbarossa, Planet B … Und immer (wie auch sonst?!) setzen die Geschichten erst an einem bestimmten Punkt der Entwicklung ein. Gestern erst hab ich mir The Midnight Sky angeschaut (Hauptrolle und Regie George Clooney, also da kann nicht viel schiefgehen, und zu sophisticated wird es auch nicht: weihnachtstauglich).

Und hier liegt, ähnlich wie bei Anton und den anderen, der Beginn der Geschichte einfach mittendrtin oder sogar „danach“: Was passiert ist, ist total egal. Es ist etwas passiert, soviel muss reichen, und jetzt geht der Protagonist damit um.

Alternativ dazu rasen in anderen Geschichten die apokalyptischen Reiter im Zeitraffer durch's Bild, um dann ebenso möglichst schnell in der Phase anzukommen, in der die Protagonist*innen Strategien für's Überleben entwickeln oder letzte Dinge tun.

Im Bewusstsein, dass es letzte Dinge sind !

 

Aber was ist passiert? Woran und wann wurde deutlich, dass dies der Anfang vom Ende der Welt ist? Und vorallem: Wie lange hat das gedauert?

Am 13. März 2020 hatte ich, wie viele andere, den Impuls, ein Lockdown-Tagebuch zu schreiben. Da war dies Gefühl: Hier geschieht etwas total Surreales, das ich für mich und vielleicht auch andere festhalten möchte, um mir selbst und denen, die es dann noch interessiert, erzählen zu können, was geschah und wie sich das anfühlte. So irgendwie „Aus dem Inneren der Blase“ (da war es zum ersten Mal: dies Unter-Wasser-Gefühl!).

Seitdem ist soviel Zeit vergangen, fast ein ganzes Jahr. So viel Surreales ist Normalität geworden, ja selbst das Bewusstsein, dass Normalität nie normal war und es auch in Zukunft nie wieder eine Normalität geben wird, die noirmal ist, ist normal geworden.

 

Und trotzdem sehe ich, dass all meine Gedanken, mein Tun und Planen, Weiterdenken, sich in eine Zukunft richten, in der alles irgendwie wieder so sein wird, wie zuvor.

Und dies Zuvor ist absurd konkret:

Bitte alles zurück auf Stand Ende 2019!

 

Die Zeit läuft unter mir davon, und ich hänge mit meiner Denkweise an einem längst nicht mehr wirkenden Augenblick der Geschichte fest.

Wann kommt der Punkt, an dem wir wieder mit der Wirklichkeit synchron gehen?

Schon klar (eben: ich rede immernoch von der Zeit!), in geschichtlichen Dimensionen ist der erste Wimpernschlag noch nichtmal vollendet …

 

Gibt es soetwas wie einen mentalen, intellektuellen Kipp-Punkt? Und danach laufen wir wieder im Takt?

Kipppunkt.

 

Vorhin korrigierte ich einen Tippfehler:

In das Wort Surreal schlich sich ein F (schräg unterm R). Surfreal. Ich werde dies Wort behalten. Wer weiß, wofür ich es nochmal brauchen kann.

Surfreal.

 

Wir sehen uns. Später.

Grüße Jetzt nach Gleich

Noa

Liebe Kollegen,,,

 

was für ein Pisswetter!!!

Komme gerade von meinen Wartezimmerkonversationen nach Hause und bin klatschnaß...

Es tut aber gerade auch irgendwie gut, mal wieder über das Wetter zu schimpfen...

Und dann auch noch die MUTATION!!!

Mein Gott!!!

Sind wir nicht alle Mutationen???

Wie oft mutiert man in einem Menschenleben???

Mutieren wir nicht viel zu langsam???

Sind wir nicht sowieso die langsamste Spezies???

Wie lange braucht es nochmal bis so ein Menschenleben alleine kackengehen kann,,,essen,,,sich verständlich machen kann???

 

Ja, ja - „Gut Ding will Weile haben“, mag jetzt so´n Oberschlaubi sagen und ausführen, dass unsere kognitiven Fähigkeiten dafür dann umso überragender sein werden.

Hierzu fällt mir ein Dialog ein, geschrieben von Tom Robbins, aus seinem Roman „Even Cowgirls Get The Blues“, S. 343-345, Rowohlt Verlag, 11. Ausgabe Februar 2008.

 

Hirn:

Warum so verdrossen, Genosse?

 

Daumen:

Ich dachte, du brauchst nicht erst zu fragen. Ich hab einfach die Schnauze voll davon, das ist alles.

 

Hirn:

Die Schnauze voll von was?

 

Daumen:

Die Verantwortung zu übernehmen. Mich den „Eckstein der Zivilisation“ nennen zu lassen. Mich behandeln zu lassen, als wäre ich eine gottverdammte Metapher für die Zivilisation. Ich hatte nichts damit zu tun.

 

Hirn:

Nun ja, ich würde nicht so weit gehen, das zu behaupten. Der Zivilisationsprozeß erfolgte als Ergebnis von Fortschritten der Technologie. Bis der Mensch Werkzeuge hatte, Werkzeuge, die Mühen ersparten und ihm auch einen räuberischen Vorsprung vor den anderen Tieren einräumten, hatte er nicht die Muße, seine Sprache zu entwickeln oder seine psychischen und physischen Kapazitäten zu verfeinern. Du, Daumen gabst dem Menschen die Fähigkeit, Werkzeuge zu benutzen. Wenn schon nichts anderes, brachtest du ihn erst auf den Weg der Zivilisation. Und warst du denn nicht immer bei ihm, hast du ihm nicht geholfen auf jedem Schritt des Weges?

 

Daumen:

Okay, aber ich war unschuldig. Ich hatte keine Kontrolle. Ich wollte ihm nur helfen, bunte Kieselsteine aufzuheben, Obst zu pflücken, Blumen festzuhalten, Schüsseln und Körbe anzufertigen, Musik zu machen, zu weben; ich wollte ihm helfen, sich Splitter herauszuziehen und das Fleisch der Geliebten zu liebkosen. Ich wollte nicht an all dem anderen Zeug beteiligt sein. An den harten Sachen, diesem Töten und Verstümmeln, dieser Überentwicklung, dieser Unterwerfung der Natur und diesen Versuchen, Monumente gegen den Tod zu errichten. Ich habe nichts dergleichen gewollt, aber ich habe dazu beigetragen, weil du mich dazu angehalten hast, du Schwanz!

 

 

Hirn:

Der Schwanz hat eine Menge mit Zivilisation zu tun, da hast du recht, aber das mußt du mit dem Schwanz aushandeln. Ich bin das Hirn. Erinnerst du dich?

 

Daumen:

Wie könnte man das vergessen?

 

Hirn:

Schlimm, schlimm. Du benimmst dich ziemlich irrational, nicht wahr?Willst du wirklich mich für die Zivilisation verantwortlich machen?

 

Daumen:

Genau. Diese zerknitterte Oberfläche von dir, diese graue Substanz in deiner Rinde ist bei den niedrigeren Tieren beinahe inexistent, aber kaum hattest du dich auf das evolutionäre Wachstum eingelassen und Geschmack an den aufgeblasenen abstrakten Gedanken gefunden die du mit dieser Rinde denken konntest, hast du sie immer größer werden lassen, bis sie schließlich achtzig Prozent deines Volumens aus machte. Dann hast du angefangen, verschrobene Ideen zu spinnen, so schnell du nur konntest, und Befehle an hilflose Anhängsel wie mich auszuspucken, die uns zwangen, nach diesen Ideen zu handeln und ihnen Form zu geben. Daraus ging die Zivilisation hervor. Du hast sie aus deinem Willen geschaffen, weil du mit deiner übergroßen Rinde und allem Drum und Dran den Kontakt zu den anderen Tieren und vor allem den Pflanzen verloren hattest, entfremdet wurdest und zur Entschädigung die Zivilisation aufbauen ließest. Und es gab nichts, was wir anderen hätten dagegen tun können. Du warst eingemauert da oben in deiner festen Knochenburg mit einem zerebrospinalen Wallgraben drumrum, verkonsumiertest zwanzig Prozent der Sauerstoffzufuhr des Körpers und rafftest einen überproportionalen Anteil sämtlicher Nahrung an dich, du gieriger Bastard; du hattest die Schaltknöpfe der Muskelmotoren unter Kontrolle, und wir anderen hatten keine Möglichkeit, dich zu packen und davon abzuhalten, die Wonnen der Welt zu verderben.

 

Hirn:

Ja, ja, da ist etwas Wahres dran. Ich bin das bevorzugte Organ des Körpers, aber nur darum, weil meine Arbeitslast so schwer und so lebenswichtig ist. Und wie du sagst, habe ich gewaltig zur Zivilisation beigetragen. Ohne mich hätte sie nicht stattfinden können, wie sie auch ohne dich nicht hätte stattfinden können. Aber ich war genauso unschuldig wie du.

 

Daumen:

Wie könntest du? Du brachtest die Wünsche zum Ausdruck, du formuliertest die Vorsätze, du gabst die Befehle, du warst Kommandeur.

 

Hirn:

Du verstehst mich nicht, ja? Du glaubst mich zu kennen all das halbgebildete Geschwätz über die Hirnrindenentwicklung , aber du kennst mich nicht wirklich. Oh, ich bin sicher du weißt, daß ich ein elektrochemisches Netz von dreizehn Milliarden Nervenzellen habe, und vielleicht ist dir auch klar, daß in manchen meiner Knoten und Spalten, ein Glück für dich, daß du so, glatt und ganz bist, diese Zellkörper so dicht gepackt sind, daß sechs Millionen in einen Kubikzentimeter passen, und all diese Baumwollfasern summen und pulsieren und blitzen, und keine von ihnen ist der anderen gleich, ja, vielleicht weißt du das alles, aber du wirst niemals wissen, wie schwer es ist, elektrochemisch zu sein, ja, und ich übertreibe nicht, wenn ich sage, ich bin das komplizierteste und leistungsfähigste Ding in der Natur.

 

Daumen:

Das ist die traurigste Geschichte, die ich je gehört habe.

 

Hirn:

Ich suche nicht dein Mitleid; nur dein Verständnis. Hab Geduld mit mir, und wenn ich abschweife, vergiß nicht, ich habe keinen so engen Horizont wie du. Hör mir jetzt zu. Da ist ein unaufhörlicher Schauer von einlaufenden elektrischen Impulsen die auf mich niederprasseln wie der Regen auf ein Tropendach. Ich bin einem niemals endenden Sperrfeuer von Signalen ausgesetzt, die meine Nervenzellen meine Neuronen, von mir aus zwingen, unaufhörlich zu feuern wie chinesische Knallfrösche. Bei jedem dieser Impulse werden elektrische Ladungen verändert, Chemikalien freigesetzt, Spalten öffnen und schließen sich, Ionen treten aus einem Neuron aus und in ein anderes ein; es ist unglaublich kompliziert, und der ganze Zyklus findet in einer Tausendstelsekunde statt. Eine Tausendstelsekunde und da glaubt der Mensch, er hätte eine Vorstellung von Zeit. Ha!

 

SCHIMPFEN wollte ich eigentlich bis zum Ende des Briefes, aber das Fest der Liebe steht an und so will ich Euch nicht länger langelesenweilen und wünsche Euch ein entspanntes Weihnachten, ein lustiges zwischen den Jahren, und einen nachdenklichen Rutsch ins neue Jahr!!!

 

Fühlt Euch dermaßen distanzlos gedrückt, wie´s geht

 

 

Euer Oli

Lieber Florian, lieber Oli,

 

um gleich mit dem Brief in den Kopf zu fallen:

Ich bin sehr dafür, auch Deinen letzten Brief, Florian, zu veröffentlichen. Gerade den, jetzt erst recht, denn mehr denn je sehe ich uns auf dem, unserem, richtigen Weg.

Nachdem ich in den letzten Monaten und Wochen (auch) damit beschäftigt war, ein Gefühl des Versagens zu verdrängen,

Wir schaffen es nicht – ich schaffe es nicht, eine Perspektive zu entwickeln. Was ist eigentlich mein Problem? Alle (?!) anderen kriegen doch auch irgendwas zustande: Video-Zoom-Theater-Hybride, Theater-Streaming, Video-Walks, Audio-Walks, interaktive Durch-die-Wand-Walks! Warum krieg ich das nicht hin? Woher mein Unbehagen bei all dem?

finde ich gerade in dem endlich formulierten Ich-weiß-nicht-weiter, Mir-fehlt-Dies und Ohne-Das-kann-ich-nicht-produktiv-werden den Kern und damit vielleicht die Perspektive unseres gemeinsamen Arbeitens:

Wir brauchen tatsächlich nicht viel, aber dies Wenige ist unabdingbar:

Wir brauchen uns, ich brauche Euch und einen großen leeren Raum.

Ohne das ist alles Nichts:

Wir reden vom Überleben als Künstler*innen!

Satt und sauber überleben nur Maikäferlarven – und auch die hoffen auf den Aufbruch im Frühjahr.

Für unser geistig-seelisches Überleben als Künstler*innen, als Theaterschaffende, als Kollektiv, brauchen wir die persönliche Begegnung und den Raum der Möglichkeiten.

Kein digitales „Format“ ersetzt irgendetwas davon: Was immer da war (behauptet wurde), ist spurlos verschwunden, wenn der Bildschirm wieder schwarz ist. Kein Satz schwingt im Raum nach, kein Wind, kein Geruch, keine Temperatur. Als wäre nichts gewesen. Weil nichts war. Weil nichts wahr.

 

In über 30 Jahren (Hallo?!) freien Kultur- und Theaterschaffens sehe ich mich einen Raum nach dem anderen aus dem Boden stampfen, mittragen, entdecken und auch-wollen. Immer wieder der gleiche Wunsch, der gleiche Versuch und die gleiche Falle: Da soll ein Raum der Möglichkeiten sein, in dem wir uns treffen wann und so oft wir wollen, der uns vor Kälte und Regen schützt, ein Ort für unsere Visionen. Und sobald solch ein Raum vorhanden ist - ein Hanomag-Gelände in Hannover, eine Kulturfabrik in Hildesheim, ein Theaterhaus an all seinen Orten, ein winziges Theater zwischen den Dörfern – greift das immer gleiche Phänomen:

Der Raum lebt und muss gefüttert werden, wir arbeiten, um ihn zufrieden zu stellen. Er ist ein Nimmersatt. Und irgendwann reiben wir uns die ausgebrannten Augen und sehen, was geworden ist. Der Raum ist noch da. Aber da ist kein Platz mehr für uns: Wir können es uns nicht mehr leisten, dort einfach nur zu sein, um zu arbeiten. Der Raum ist sein eigenes Projekt geworden, beschäftigt Menschen, die nur damit beschäftigt sind, ihn zu beschäftigen.

Und wir sitzen wieder zu Hause, zählen das Kleingeld und rechnen, wann wir uns für wie lange wieder in diesem Raum begegnen können.

 

Ich will ein bedingungsloses Grundeinkommen und einen bedingungslosen Raum.

Ich verspreche, dort zu schaffen. Ich kann ja gar nicht anders. Wenn ich anders könnte, hätte ich dies unbequeme Leben längst eingetauscht und wär mit den anderen rauf auf die Bäume. Ich kann nicht anders und ich will nicht anders.

 

Wusstet Ihr übrigens, dass der Quastenflosser einem Menschen genetisch näher ist als einem Fisch? Und: Ich habe tatsächlich gar kein Problem mit der Vorstellung eines Organladens für Prä-Pottwale.

 

Wir sehen uns morgen :)

Noa

'Brief ' kommt vom lateinischen 'brevis' für kurz. Insofern ist ein kurzer Brief eine Tautologie, ein langer Brief ein Oxymoron. Viel Spaß beim letzteren.

 

Hildesheim am Mittwochnachmittag, etwa zehn vor vier,
oder am Freitag, Samstag, Montag oder Dienstag zu irgendeiner anderen Zeit

 

Liebe Leute,

und Oli, danke für Deinen Brief. Das war der motivierende Klaps, der mir fehlte, und Dein Brief beruhigt mich insofern, als dass ich, ebenso wie Du es tust, Euch auch was vorjammern darf. Ich bewundere die Leichtigkeit, mit der Du „Es geht mir schlecht!“ schreibst, Oli, während ich mir immer wieder meine halben Seiten durchlese und denke: Was soll das andauernde Klagen? Es gibt doch auch so viel Gutes zu berichten. – Aber, ähm, nein, gibt es nicht, es gibt eigentlich gar nichts zu berichten, weil nichts passiert, weil in meiner momentanen Situation alles stillsteht – außer vielleicht die dröhnende Straßenbaustelle vor meiner Haustür, die sich seit Wochen in quälender Langsamkeit von der innerstädtischen Hauptstraße auf den Weg zum Stadtrand macht: Abschnitte werden abgesperrt, gefräßige Maschinen vorgefahren, Straße aufgerissen, aufgegraben, irgendwelche Rohre, Leitungen, Verbindungen verlegt, zugeschüttet, verdichtet, wiedereinzementiert, einen Abschnitt beendet und entsperrt und weiter geht’s mit dem nächsten, kaum zwölf Meter vorangekommen.

Und während es draußen dröhnt, keimen Worte in mir und welken, reifen, gären und faulen. Seit Tagen. Es ist ein Wirrwarr von Gedanken und Formulierungen, die mir von einem Tag auf den anderen mal sinnvoll, mal überflüssig, mal absurd aber schlau und schlüssig, dann wieder voller Klarheit, aber leider lapidar und geschwätzig vorkommen. Immer wieder setze ich mich vors leere Blatt in der Hoffnung, dass sich das Dickicht lichtet und Ordnung mit dem Schreiben kommt. Immer wieder kommt ein halber Text zustande, und immer wieder denke ich: Wieder nichts und wird wohl nichts mit Briefen in nächster Zeit.

Aber jetzt! Egal wohin er mich führt, gegebenenfalls auch ins Leere, in die Irre oder vor die Wand.

 

Von Anfang an wollte ich, in der Hoffnung, dass ich für unsere Kunst, unseren Raum, unser Theater Strategien oder Alternativen finde, ganz allgemein über Entwicklung und Evolution schreiben. Das ist aber eben schlecht, wenn sich, wie gesagt, in meinem Leben momentan so gar nichts entwickelt, wenn sich Zukunft und Vergangenheit zum Verwechseln ähneln, und ich mit Bestürzung bemerke, dass nichts wächst. Das ist das einzig Neue für mich, aber das Entdecken einer Fehlstelle ist nicht wirklich eine Entdeckung.

Zumindest kann diese Erkenntnis immer noch meinen inneren Widerstand nähren, also rede ich jetzt, sei's drum, von Evolution und wiederhole Deine Frage, Noa: Wer bin ich – Wal oder Quastenflosser?

Der Selektionsdruck trieb diese Lebewesen einst an Land beziehungsweise (zurück) ins Wasser und eröffnete ihnen neue Lebensräume und Überlebensstrategien.

Zwei Fragen zuerst:

Ist es zulässig, diese Äonen dauernden natürlichen Vorgänge der Schöpfung mit den gegenwärtigen und im Vergleich lächerlich kurzfristigen kulturellen und gesellschaftlichen Entwicklungen zu vergleichen?

Voreilige Antwort: Ja. Es ist ein Gedankenexperiment, und wenn es zu Erkenntnissen hilft, ist es erlaubt.

Aha. Aber wenn es so verstanden – und auch von niemandem wahrhaft bestritten – momentan einen gesellschaftlichen Selektionsdruck gibt, der auf weitere Sicht das Theater lahm legt, läge es dann nicht auf der Hand, dem nachzugeben und was anderes zu machen?

Ebenso voreilig: Nein!

Aber warum denn nicht? (Das wäre schon die dritte Frage.)

Weil ich nicht will! Weil ich... -

Tja, hier fehlen die Worte. Ich hatte an diese Stelle schon einiges hingeschrieben und alles wieder gestrichen. Trotz und Pathos schienen mir unangebracht, das meiste wurde entweder schon längst formuliert oder war langweilig; und ich will auch irgendwie auf etwas anderes hinaus – glaub ich...

Für den Moment soll genügen, dass ich nicht aufgebe.

Und ab hier will ich weniger voreilig sein.

Treffen wir uns also wieder unter Wasser, betrachten die Ordnung der Wale, bevorzugt die verzweigte Familie der Zahnwale und im Speziellen

Den großen Pottwal:

 

Ich stelle mir seine Lebensweise vor: Er taucht nach gelungener Jagd auf und entlässt überschüssige Atemluft. Nach einer Ruhepause holt er tief Luft, einmal, zweimal, lässt den größten Teil seines Atems über Wasser, taucht wieder. Bis zu zweitausend Meter tief, um dort sich mit seiner bevorzugten, annähernd genauso großen und starken Beute, dem Tiefsee-Calmar, zu messen, mit ihm zu ringen, ihn im besten Fall zu besiegen und ihn dann zu verschlingen.

 

- ??? -

 

Warum, in aller Welt, sucht sich eine Spezies so ein unbequemes Leben? Es geht doch viel einfacher, siehe die Lebensweise seiner Geschwister, Vettern und Cousinen.

Zur deutlichen Korrektur: selbstverständlich ist aus wissenschaftlicher Sicht die Behauptung falsch, dass sich eine Gattung oder Spezies aus freiem Willen entscheiden kann, wo und wie sie leben will. Man stelle sich vor, dass so ein Prä-Pottwal den Entschluss fällt: 'Ich mach mal einen auf Tiefsee', schwimmt zum nächsten Organladen und holt sich, was man für ein solches Leben so braucht:

  • Ein hochleistungsfähiges Ortungssystem für die Orientierung in der Finsternis der Tiefsee

  • extra Sauerstoffspeicher für lange Tauchgänge (bis zu 100 Minuten)

  • einen speziellen Mechanismus zur Überwindung des Stickstoffproblems bei Maximaldruck

  • und nicht zuletzt einen Schallerzeuger, der, um seiner Beute die Sinne zu rauben, Töne hervorbringt, die lauter sind als alle Presslufthämmer vor meiner Tür.

Eine beachtliche Sammlung von Spezialorganen, die im Tierreich ihresgleichen suchen. Die Wissenschaft rätselt noch immer, wie das alles funktioniert.

Aber weiter und siehe oben: Die Arten, so die Lehre der Evolution, entwickeln sich durch Selektionsdruck und über sehr lange Zeit. Die unterschiedlichen Habitate erfordern Anpassung an die Gegebenheiten, und so verändern sich die Gattungen und Arten ihrer jeweiligen (neuen) Umwelt entsprechend. Die Spezies Pottwal lebt als Lungenatmerin und Großräuberin sowohl an der Wasseroberfläche als auch in der Tiefsee, und also schenkte ihr die Natur alles Nötige. Das ist ein unwillkürlicher Vorgang; ein einzelner Pottwal trifft da keine Entscheidung.

Aber ich frage trotzdem: Warum dieser Aufwand? Warum diese Qualen und diese Gefahr? Es gab oder gibt doch keine Not. Wenn Individuen einer niederen Spezies in solch abseitige Habitate verdrängt werden, kann ich mir noch vorstellen, wie so etwas in Gang kommt. Aber der Pottwal – riesenhaft, stark, aber vor allem vernunftbegabt und ausgestattet mit dem größten Gehirn auf Erden, mit einer astronomischen Unzahl von Neuronen und Synapsen – lässt sich doch von einem simplen umweltbedingten Selektionsdruck nicht ins Bockshorn und in die lebensfeindliche Tiefsee jagen.

 

Dazu kann niemand beweiskräftig etwas sagen. (Ich wünschte, es gäbe einen Unterwasser-Autor vom Schlage Hararis, der etwa das Buch 'Eine kurze Geschichte der Pottwalheit' geschrieben hat.) Aber ich wage eine Spekulation, kehre noch einmal zurück und stelle mir die Gruppe der Prä-Pottwale in grauer Vorzeit vor.

Sie entwickeln einen merkwürdigen Wettbewerb: Wer kann am tieften? Nur so zum Spaß.

Von seinen nächsten Verwandten, Tümmlern, Orcas, Schweinswalen kennen wir ähnlich verspieltes Verhalten. Sportgeist, Ehrgeiz, nicht zuletzt Neugier wären unsere menschlichen Begriffe dafür, und hinter diesen Kategorien verbirgt sich der freie Wille, die individuelle Entscheidung.

Könnte man hier dann doch den Ansatz sehen für einen selbstbestimmten Selektionsdruck? Wieder fabelhaft gedacht: Das Pottwalindividuum spricht mit erpresserischer Absicht zur Schöpfung: „Pass mal auf, meine Liebe: Ich tauche so lange lebensgefährlich tief, bis du und deine dämliche Evolution mir die geeignete Ausrüstung zu Verfügung stellen.“ Und noch kompromissloser ginge die Rede weiter: „Ich habe mir da schon mal was ausgedacht.“

Dieser Gedanke ist zugegeben waghalsig, aber wenn das in Ansätzen so stimmt, wäre der Pottwal der selbstbestimmte Erfinder und Ingenieur seines eigenen Phänotyps.

 

Und das wäre zugleich die mögliche Parallele zwischen Pottwalen und Menschen: Dass sie selbst die eigenwilligen Architekten ihrer Lebensart sind.

Ingenieure und Erfinder sind Menschen sowieso. Wir bauen uns in der Tat als begabte Werkzeugmacher unsere Ausstattung selbst, gehen in den nächsten Laden, kaufen Kleidung, Brillen und Smartphones. Der Cyborg (im erweiterten Sinn) ist weder eine zukünftige noch gegenwärtige Entwicklung, schon gar keine Vision, sondern eine Tatsache und für den Menschen allgemein konstitutiv. Schon in dem Moment, als der Mensch z.B. mit Hilfe eines Speers die Fähigkeit seiner Hand erweiterte oder seine haarlose Haut mit Fellen schützte, durchbrach er die Grenzen seines gesetzten Habitats und verschob die Gesetze des natürlichen Selektionsdrucks.

Ja, ich weiß. Unter Cyborg versteht man normalerweise einen durch künstliche Implantate und Prothesen verbesserten menschlichen Körper. Aber wer sagt denn, dass – wie beim Pottwal im riesenhaften Kastenkopf – sich unsere neuerworbenen Organe im Körper befinden müssen? Der Mensch von heute hat seine erweiterten Sinne und die Hälfte seines Gehirns mittlerweile in der Hosentasche, und